Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
aufgehängt.«
»Sie ist wirklich eine Wucht . Genau deshalb habe ich sie damals eingestellt.«
»Du hast sie nicht eingestellt.«
» Meiner Meinung nach sind es sowieso nicht die Wandfarbe und die Flugzeuge, die die Atmosphäre ausmachen.«
»Was dann?«
Jamie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das eine Berufskrankheit, aber für mich haben Computer immer etwas Romantisches und Verheißungsvolles. Besonders wenn sie ausgeschaltet sind, so wie jetzt. Man hat den Eindruck, dass man nur einen Knopf drücken muss, und schon stehen einem alle Möglichkeiten offen und sämtliche Träume werden wahr. Computer sind etwas Magisches, findest du nicht? «
»Wie kitschig«, lautete Sams Urteil.
»Genau desha lb bin ich Abteilungsleiter und du arbeitslos«, erklärte Jamie. »Poesie. Der Unterschied liegt in der Poesie.«
»Das ist mir neu«, sagte Sam trocken .
»Im Ernst, Sam: Ich bin total beeindruckt. Nicht nur von euren Geschäftsräumen, von allem. Was ihr hier auf die Beine gestellt habt, was ihr hier leistet, das ist wirklich eine tolle Sache. Vielleicht verändert ihr sogar die Welt damit.«
»Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben.«
»Z um Glück bist du ein Genie mit guten Absichten und kein Bösewicht.«
»Das würde alles zerstören«, gab ihm Sam recht.
»Genau, wohingegen du momentan nur einen zerstörst, nämlich mich.«
Die Kundendatei wuchs, was natürlich positiv war, genau wie die Erwartungen, was vorhersehbar war. Aber auch das Auswahlmenü wurde umfangreicher, und das brachte Probleme mit sich. Den Bensons zuliebe machte sich Sam gezielt daran, die SMS -Option zu verbessern. Er glaubte, dass Kurznachrichten, weil sie so schnell Freude bereiten konnten, sehr beliebt sein würden, zumal sie vom Programm leicht nachzuahmen waren. Und zwar selbst dann, wenn man als Vorlage nur die Textnachrichten eines unberechenbaren, notorisch unehrlichen Teenagers hatte. Aber dann stellte sich doch heraus, dass diese Kommunikationsform zu telegrammartig war, um den Kundenbedürfnissen wirklich gerecht zu werden. Normalerweise nannten die Projektionen darin nur eine Zeit und einen Ort, an denen sie ihr Gegenüber treffen wollten, was natürlich besonders grausam für die Kunden war. Einige Kunden wollten auch Twittermeldungen von ihren verstorbenen Angehörigen empfangen, aber es war wenig überraschend, dass sie die Ausnahme blieben.
Letzten Endes entschieden sich die meisten für E-Mails oder Video-Chats, für die beiden Extreme des technischen Spektrums also. E-Mails waren wenig mehr als ein besserer Brief, während Video-Chats fast schon einer Gotteserscheinung gleichkamen. E-Mails waren befriedigender, nachhaltiger. Man konnte genauer ausführen, was man meinte, konnte sich alles von der Seele schreiben und erhielt dann eine Antwort, die man ausdrucken und mit sich herumtragen und an die Brust drücken konnte. Video-Chats boten diese Vorteile nicht, verschlugen den Leuten aber den Atem. Sie konnten einfach nicht glauben, was sie da sahen. Und sie konnten nicht genug davon bekommen. Video-Chats machten süchtig. Ihr größter Trumpf war die geradezu unglaubliche Wirklichkeitsnähe. Es wirkte alles so verdammt echt. Wenn man allerdings rührselig oder romantisch oder weinerlich wurde, starrte einen die Projektion nur an, als sei man verrückt geworden, und fragte leichthin, was denn mit einem los sei. Für die Kunden mit ihren wehmütigen Erinnerungen und trauernden Herzen war das natürlich besonders grausam. Die Projektionen verstanden einfach nicht, warum sie so traurig waren, und ließen es sich auch nicht erklären. Also logen die Kunden ihre Projektionen an. Oh, gar nichts, alles in Ordnung. Alles beim Alten. Und was gibt’s bei dir Neues?
Sams Vater behielt recht: Die Kunden kamen ihren Projektionen mehr als nur entgegen, sie dirigierten sie sogar sanft in die richtige Richtung, mieden Themen, die sie ins Schleudern brachten, und sorgten dafür, dass alles reibungslos funktionierte. Das wahre Wunder aber bestand darin, dass die Projektionen ihren Hinterbliebenen ebenfalls entgegenkamen. Obwohl die Kunden logen, auswichen, um den heißen Brei herumredeten, Andeutungen machten, wirres Zeug plapperten und Mist bauten, kitzelten sie erstaunlich oft die ersehnten Reaktionen aus ihren Projektionen heraus. Schließlich handelte es sich um geliebte, vertraute Menschen. Die ganze Sache funktionierte ja ohnehin nur, weil diese Menschen sich gegenseitig hervorragend kannten, sich über alles
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