Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
vielerlei Auswirkungen, aber bald war die Flut neuer Kunden – beziehungsweise potenzieller neuer Kunden –, die in den Salon strömten, das Einzige, für das sie noch Zeit hatten. Sie waren zwar so schlau gewesen, die genaue Adresse des Salons geheim zu halten, aber nicht schlau genug, auch alles andere unter Verschluss zu halten – ihre Namen, welche Cafés und Restaurants sie gerne besuchten, auf welchen Plätzen sie am liebsten im Stadion saßen, wo sie gerne mit den Hunden spazieren gingen. All diese Informationen hatte Meredith Jason Peterman verraten, weil sie ihr nebensächlich und irrelevant vorgekommen waren. Jetzt mussten sie feststellen, dass sie auf der Straße erkannt, im Coffeeshop bedrängt, in der Kneipe belauert oder beim Beseitigen von Hundehaufen belästigt wurden. Manche Leute plapperten einfach nach, was die Reporter geschrieben hatten: »Wie können Sie nur das Leid anderer Menschen ausnutzen?« »Wer sind Sie, dass Sie einfach für die Toten sprechen?« »Sie beleidigen Jesus.« Aber die meisten legten zaghaft eine Hand auf Sams Arm oder Merediths Schulter und flüsterten, was Eduardo Antigua, ihr allererster Kunde, gesagt hatte: »Ich habe gehört, dass Sie die Möglichkeit bieten …« Die Interessenten rannten ihnen die Tür ein. » Es bricht einem ja das Herz, wie viele Leute einen geliebten Menschen verloren haben « , sagte Sam. » Jeder verliert irgendwann einen geliebten Menschen « , antwortete Meredith.
Ihre dezente, geschmackvolle Anmeldungsseite im Internet war dem Ansturm bald nicht mehr gewachsen. Bisher hatten sie ganz nach dem von Dash vorgeschlagenen Motto operiert: »Man muss Bescheid wissen, um uns zu finden. « Da inzwischen jeder Bescheid wusste, strichen sie die Online-Anmeldung einfach komplett, aber auch so kamen sie der Nachfrage nicht einmal mehr ansatzweise nach. Dash ließ sich außerdem von Courtney Harman-Handlers Behauptung verunsichern, CNN habe Schein kunden eingeschleust. » Ist doch egal « , hielt Sam dagegen. Re-Prise ließ sich nicht fälschen. Wenn ein Kunde die überaus hohen Voraussetzungen nicht erfüllte und keine Kommunikation mit einem geliebten und inzwischen verstorbenen Menschen vorzuweisen hatte, konnte keine Projektion für ihn erstellt werden. Ob sein Motiv für die Anmeldung nun Trauer oder investigativer Journalismus war, ohne VA funktionierte es nicht. Dash vertrat dennoch den Standpunkt, dass sie keine Saboteure gebrauchen konnten, die Kunden ausspionierten, das System infiltrierten und sich nicht an den Ehrenkodex hielten. Dazu gehörte beispielsweise, dass das, was im Salon passierte, auch im Salon blieb.
Dann rief Marisha St. James eines Tages erneut an.
»Ihrem Unternehmen wird Exklusivität vorgeworfen«, teilte sie Meredith mit.
»Ich dachte, unserem Unternehmen wird vorgeworfen, vom Leid der Menschen zu profitieren.«
»Stimmt«, antwortete Marisha St. James. »Allerdings nur bei einer wohlhabenden Minderheit.«
»Ist es nicht besser, von Wohlhabenden zu profitieren als von Armen?«
»Am besten ist es ja wohl, überhaupt niemanden auszubeuten, finden Sie nicht auch?«
»Es findet aber keine Ausbeutung statt. Wir bieten eine Dienstleistung an.«
»Eine sehr teure Dienstleistung.«
»Ich kann das Problem nicht erkennen . Wir wollen unseren Kundenstamm klein halten, damit jeder den Service bekommt, den er verdient. Die Nachfrage ist hoch, unsere Kosten sind erheblich. Die Software ist bahnbrechend und unglaublich komplex. Es war nicht leicht, sie zu entwickeln und zu perfektionieren, und es ist auch nicht leicht, sie instand zu halten.«
»Der Tod war bisher immer ein universelles Phänomen«, erwiderte Marisha St. James. »Jetzt müssen nur noch die Armen trauern, während die Reichen ihre verstorbenen Angehörigen für immer bei sich behalten können.«
Dash hätte auch diesmal wieder eine Liste mit Dienstleistungen parat gehabt, die nur Reichen zur Verfügung stehen, während Sam eher in die Richtung argumentierte, dass der Tod noch nie ein universelles oder klassenloses Phänomen gewesen sei. Aber die frischgebackene PR-Beauftragte Meredith führte ein Stipendium und gestaffelte Tarife ein und fühlte sich dadurch wenigstens ein bisschen besser.
Sämtliche Schwierigkeiten schienen auf ihren Schultern zu lasten. Sam durfte tun, was er immer schon getan hatte: den Kopf beugen, die Füße in den Boden stemmen und Software entwickeln. Dash durfte ebenfalls tun, was er immer schon getan hatte: ein bisschen herumplaudern,
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