Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
ebenfalls weniger störungsanfällig, vielleicht weil auch die Kunden im Umgang mit RePrise Fortschritte machten. Merediths Stimmung hellte sich auf, und Livvie tat sich leichter mit einer fröhlichen Meredith als mit einer unglücklichen. Das eine ergab das andere: Wenn Meredith traurig war, hatte Livvie Schwierigkeiten mit ihr, was ihre Enkelin noch mehr bekümmerte; wenn Meredith hingegen zufrieden war, kam Livvie besser mit ihr klar, was ihre Enkelin noch glücklicher machte. Dann erhielten sie eines Samstagnachmittags Ende August einen Anruf aus der St.-Giles-Klinik. Am Apparat war ein gewisser Dr. Dixon. »Ich finde, Sie sollten herkommen und sich das ansehen«, teilte er Meredith mit, die mit Sam gerade im Lincoln Park am Strand lag, wo sie lasen, die Fährschiffe beobachteten und den Blick über die Meerenge und die Berge schweifen ließen. Sonne, Wind, Wasser – ein herrlicher Nachmittag. Trotzdem packten sie sofort ihre Sachen zusammen und fuhren in die Klinik. Sie hatten zwar keine Ahnung, was sie dort erwartete, ahnten aber, dass es nichts Gutes war.
Dr. Dixon führte sie in eine hellgelb gestrichene, fröhlich wirkende Station im dritten Stock des Ostflügels, in der jede Menge Spielzeug herumlag, große Fenster für Licht und frische Luft sorgten und eine ganze Wand mit Bäumen und niedlichen Tieren bemalt war. Dennoch war diese Station der elendeste Ort, den Sam in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Auf dem Weg durch die Flure hielt Dr. Dixon ihnen eine herzzerreißende Ansprache: »Zu uns kommen drei Arten von Kindern: diejenigen, die sich wieder erholen und gesund oder zumindest in der Lage sein werden, am Leben teilzuhaben, diejenigen, die das Glück haben, schnell zu sterben, und diejenigen, die es am schwersten haben, weil sie dauerhaft hier sind. Ihnen geht es erst schlechter, dann wieder besser, dann wieder schlechter, sie schöpfen neue Hoffnung, erholen sich ein wenig, schöpfen noch mehr Hoffnung, bis sich ihr Zustand wieder ein wenig verschlechtert, dann stark verschlechtert und schließlich wieder ein wenig verbessert. Und dann sterben sie. Sie verbringen ihr ganzes kurzes Leben hier drinnen und sterben auch hier, begleitet von ihren Eltern. Sie sind es, die uns die Arbeit erschweren. Und Sie beide haben es noch viel schlimmer gemacht. Ich finde, Sie sollten mit eigenen Augen sehen, was Sie angerichtet haben. «
In einem kleinen Zimmer am Ende des Flurs saß ein schmächtiger Junge auf Kissen gestützt da, umklammerte ein abgewetztes gelbes Stoffkaninchen und weinte. Er hatte Schläuche in den Armen, in der Nase, im Darm. Sein Köpfchen war kahl, und er war kreidebleich und erschreckend knochig. Aber er weinte nicht wegen der Schläuche oder weil er so schmächtig und kahl und bleich war und sterben musste. Er weinte, weil sein Vater neben ihm auf dem Bett saß, einen Laptop aufgeklappt hatte und seinen Sohn dazu zu bringen versuchte, E-Mails an ihn zu verfassen.
»Was hast du denn heute alles getan?«, fragte der Vater sanft.
»Mit mein Kaninchen gespielt«, flüsterte der Junge.
»Dann tipp das doch mal ein für mich«, forderte ihn der Vater auf.
» Mag ich nicht.«
»Was ist denn sonst noch heute passiert?«
»Spritze.«
»Tippst du das für Papi ein?«
» Mag ich nicht«, heulte der Junge.
»Herrgott, er kann doch nicht älter als drei oder vier sein«, sagte Sam.
»Er ist siebeneinhalb«, erwiderte Dr. Dixon. »Trotzdem noch ein bisschen jung zum E-Mailen. Außerdem hat er viel Unterricht verpasst wegen seiner Krankheit.«
Nebenan lag ein noch kleineres Mädchen in einem rosa Nachthemd auf dem Bett, weinte herzzerreißend und streckte die Ärmchen nach seinen Eltern aus. »Hoch, will hoch, will hoooooch«, heulte es immer wieder. Seine Eltern saßen am Fußende des Betts und weinten ebenfalls, rührten aber keinen Finger. Zwischen ihnen und dem Mädchen stand ein offener Laptop, auf dem ein Video-Chat aktiv war. Die Kamera war auf das kleine Mädchen gerichtet. »Nur noch ein paar Minuten, dann hast du es für heute geschafft, meine Süße«, sagte die Mutter unter Tränen. »Nur noch ein paar Minuten. Mami und Papi brauchen das für später. Sag Mami doch mal, welches dein Lieblingsbuch ist. Wie macht die Kuh?«
Meredith war inzwischen bleicher als der kleine Junge im ersten Zimmer. Sie entschuldigte sich, schaffte es aber nicht ganz bis ins Badezimmer und übergab sich auf dem Flur.
»Es tut mir so leid, Dr. Dixon«, brachte sie hervor.
»Passiert hier ständig«,
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