Der Allesforscher: Roman (German Edition)
grüne Augen und kleine Ohren und eine Schnauze, die dunkler war als der Rest von ihm. Wären die Kreuze nicht gewesen, hätte man ihn für einen sehr durchschnittlichen Mischlingsrüden halten können.
Einen Moment dachte ich daran, daß solche Kreuze nicht zuletzt auch auf chemischen Produkten zu sehen waren, um dort auf eine Gefahr hinzuweisen. – Hatte man diesen Hund angemalt, um vor ihm zu warnen? War er verflucht, oder war er der Fluch? (Stimmt, besagtes Kreuz als Gefahrensymbol ist Schwarz auf Orange, dieses Hundekreuz aber war Rot auf Hellgrau. Doch vielleicht hatten sie einfach kein Orange und kein Schwarz mehr gehabt, vielleicht …)
Ich sagte mir: »Hör auf zu spinnen.«
»Ein Andreaskreuz«, erklärte Mercedes, der sich als Messerwerfer – und wie er einmal gesagt hatte, als »christlicher Messerwerfer« – mit zielartigen Symbolen gut auskannte.
»Welcher Andreas?« fragte ich.
»Der Apostel, einer der Fischer. Als man ihn kreuzigte, hat man das auf schrägen Balken getan. Und dann ging der Name des Gekreuzigten auf das Kreuz über.«
Mercedes schaute hinunter zu dem Tier und redete mit ihm in jenem leicht vertrottelten Ton, den Menschen gegenüber Vierbeinern gerne anschlagen: »Heißt du Andreas, mein Guter?«
Der Hund kam und strich im Stil einer Katze mit dem Kopf gegen die Beine Mercedes’. – Nun, das hätte er vielleicht auch getan, hätte man irgendeinen anderen Namen gewählt. Doch Auden, der den Hund natürlich kannte, erklärte, der Hund heiße tatsächlich Andreas.
Ich sah Mercedes an und sagte: »He, Sie wußten das vorher schon!«
»Nein, wußte ich nicht. Es war nur so ein Gefühl.«
Ich fragte mich, ob dieser Mann, der mich zumindest optisch an den Allesforscher meiner Kindheit erinnerte, ob dieser Mann ein Lügner war. Denn obgleich er wie ich selbst am Tag zuvor das erste Mal in die Hütte der Tulfeinalm gelangt war, so hatte er von seiner Frau sicherlich vieles über diesen Ort und jene Chefin erfahren. Und dabei auch gehört, es existiere ein Hund namens Andreas. Andererseits wirkte Mercedes jetzt absolut aufrichtig, seinerseits erstaunt, den Namen des Hundes erraten zu haben. Wobei »erraten« das falsche Wort war. Mercedes hatte kombiniert und hatte eben richtig kombiniert. Verwunderlich war es dennoch. So verwunderlich wie der Umstand, daß er mir im Traum prophezeit hatte, ich würde demnächst als Geburtshelfer fungieren. – Konnte es sein, daß der Messerwerfer genau das war: ein Prophet? Freilich ein unbewußter.
Simon als Allesforscher und Mercedes als Prophet?
Passenderweise konnte ich später feststellen, daß der Hund, der Andreas hieß, den Leuten auf der Tulfeinalmhütte wirklich als eine Art Märtyrer galt. Mit dem Hang, in brenzlige Situationen zu geraten. Obgleich er eigentlich als Rettungshund ausgebildet worden war, war er eher ein Hund, der seinerseits des öfteren gerettet werden mußte. Die Kreuze auf seinem Fell waren darum auch dahingehend zu deuten, daß man dank ihrer den Hund besser finden konnte, wenn er wieder einmal verlorengegangen war. Andreas war ein Lawinenhund, der gerne in Lawinen geriet. Ob das nun allerdings wirklich das Martyrium war, für das dieser Hund stand, blieb doch recht unklar. Aber Unklarheit ist ohnehin die Krönung jeglicher Religion.
Wir tranken aus, und Auden und Mercedes gingen noch mit dem Wirt mit, um ein paar Lebensmittel zu holen, die für die Chefin bestimmt waren.
Ich selbst begab mich auf die Toilette, der Andreashund an meiner Seite. Dabei geriet ich in einen langen Flur, wo auf Gesichtshöhe gerahmte und verglaste Fotos aneinandergereiht hingen. Das Übliche: Bilder von Bergsteigern und Bilder von Hüttenfesten und Bilder von Gipfelkreuzen – alte Schwarzweißfotos und auch nicht mehr ganz junge Farbabzüge (manche Farben so blaß, als wären sie weniger einem Alpinismus als einem Albinismus erlegen). Die jüngsten Bilder waren vor einigen Jahren entstanden, das älteste kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Auf vielen davon die Unterschriften der im Foto Verewigten.
Kein Grund, den Besuch der Toilette aufzuschieben. Dennoch blieb ich hängen.
Als ich etwa in der Mitte an eine Farbabbildung kam, konnte ich wegen der Spiegelung, die die durchbrechende Sonne verursachte, zunächst einmal nur mich selbst sehen, wie ich da mit zusammengekniffenen Augen versuchte, die Fotografie zu betrachten, und statt dessen nur Gekniffenes erkannte. Ich neigte den Kopf etwas zur Seite, um einen günstigeren
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