Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Blickwinkel zu gewinnen. So gewahrte ich im Vordergrund des Bildes zwei Männer, bekleidet in der typischen Art von Extremalpinisten. Ihre Haut ledrig, ihre Bärte voll. Sie lächelten in die Kamera. Hinter ihnen befand sich eine Art Monument, und darüber erhoben sich die angezuckerten Gipfel mehrerer Berge. Rechts von den Kletterern, weiter hinten im Bild und damit näher am Denkmal, standen zwei weitere Personen. Bisher hatte ich sie wegen der starken Reflexion nicht wahrgenommen, aber indem nun eine Wolke vor die Sonne zog und dem hereinfallenden Licht einen Schleier verlieh, verlor sich der Widerschein, und ich sah alle Teile des Bildes, auch die zwei Frauen im Hintergrund. Ich klebte mit der Nase an der Scheibe und strengte meine Augen an. Und dann erkannte ich sie: Lana! Sehr viel dünner als in meiner Erinnerung – das Gesicht eine schmale Säule, die Augen dunkel, schattig. Lana trug ein Kopftuch, auf diese geschlossene Weise, wie bei Menschen, die kein Haar mehr besitzen. Die Krankheit, die sich in ihr ausbreitete, erschien als markante Aura. Aber auch Lana lächelte. Am Leib hatte sie ein kreuzförmig gebundenes Tuch – man könnte sagen: ein Andreastuch, und hinter ihrer linken Schulter war der Schopf eines Babys zu erkennen. Keine Frage, es mußte Simon sein. Mitten in seinem ersten Lebensjahr, Monate bevor er dann seine Mutter verlieren würde.
Sosehr Lana auf dem Foto vom Tod gezeichnet war, so eben auch von der Schönheit, die gerade der todkranke Mensch auszustrahlen vermag. Man könnte sagen, dem Genius des Todes gelinge es, den Menschen in seiner ganzen Reinheit zu zeigen. Der vom Tod Gezeichnete ist auch der von Gott Berührte, der ja immer nur die Unglücklichen berührt, nie die Fröhlichen, auch wenn die Fröhlichen sich das in ihrer Fröhlichkeit gerne einbilden.
Obgleich Lana ungemein dünn war, verfügte ihr Busen – von den textilen Balken des Andreastuches noch gestützt und hervorgehoben – über jene Fülle, jenes sichtbare Gewicht, wie es einer stillenden Mutter entsprach. Ja, es konnte gar kein Zweifel bestehen, daß Lana zum Zeitpunkt dieses Fotos Simon noch immer die Brust gegeben hatte.
Eine Brust, die ich nie zu Gesicht bekommen hatte. Und mir alles Mögliche und Unmögliche vorgestellt hatte. Jetzt aber kam mir der Gedanke, daß Lana diesen Körperteil – sichtbar und greifbar – allein für ihr Kind reserviert hatte. Und keine Scham, keine Narbe, kein Defekt war es gewesen, der sie abgehalten hatte, mich »einzuweihen«.
Wenn es so war, genau so, war es in Ordnung. Sehr in Ordnung.
Unten auf dem Foto hatte einer der Bergsteiger den 5 . Juni 2005 notiert, daneben standen chinesische Schriftzeichen, die möglicherweise den Ort bezeichneten. Es folgten zwei Signaturen, gewiß die der Alpinisten, sowie einige Zahlen bezüglich der von ihnen bewältigten Touren.
Bei der Frau, die neben Lana stand, ganz eng an ihr, als wären die beiden zusammengewachsen, handelte es sich um eine Chinesin. Auch sie dünn wie Lana, aber gesund, zumindest körperlich, wenn man bedachte, was letztlich aus ihr geworden war. Denn natürlich konnte das niemand anders sein als die Person, die nach dem Tod Lanas das Kind zu sich genommen und Simon in den folgenden Jahren aufgezogen hatte. Ohne ihm eine bekannte Sprache beizubringen, dafür aber die Fähigkeit behenden Kletterns. Jene Frau, die schlußendlich in irgendeiner Art von psychiatrischer Anstalt gelandet war, was auch immer man tun oder lassen mußte, um in Taiwan als verrückt zu gelten (das mochte ja in den verschiedenen Kulturen nicht immer das gleiche sein).
Daß sich am oberen Rande der Fotografie, über den schneebedeckten Gipfeln, drei helle Punkte abzeichneten, war ziemlich eindeutig auf einen Bildfehler zurückzuführen, einen Widerschein im Moment des Abdrückens oder etwas, das später, bei der Entwicklung des Bildes, geschehen war. Dennoch fühlte ich mich an das Ereignis zweier Nebensonnen nahe dem Astri-Berg erinnert, ein Ereignis, das allein von mir und Simon beobachtet worden war. Simon, der auf diesem Foto ein Baby war. Ein sorgsam auf den Mutterrücken gebundener Säugling.
»Haben Sie was entdeckt?«
Es war Auden. Er stand hinter mir. Sein Atem war ein kleines, warmes Pelztier auf meinem Nacken.
Ich sagte: »Nichts. Alte Fotos. Berge, Bergsteiger. Menschen in kalter Luft.«
Ich verschwieg ihm, genau auf dieser einen Fotografie der Frau meines Lebens aufs neue begegnet zu sein. Und damit auch meinem Sohn, aus
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