Der Allesforscher: Roman (German Edition)
zusammenhing (wobei Lanas Vater bereits kurz nach ihrer Geburt tödlich verunglückt war – mitunter hat Verbitterung gute Gründe).
Auch sonst meldete sich niemand aus Lanas Verwandtschaft, den diese Sache interessiert hätte. Zu erben gab es nichts. Wenn einst etwas Geld vorhanden gewesen war, dann hatte die taiwanische Pflegemutter es ausgegeben. Eine Frau, die einige Fragen hätte beantworten können. Wäre sie dazu noch in der Lage gewesen. War sie aber nicht. Der deutlichste Ausdruck ihrer Krankheit bestand darin, den Mund nicht mehr aufzumachen. Das letzte, was sie von sich gegeben hatte, war der Hinweis auf meine Person gewesen und wie eng mein Verhältnis zu Lana gewesen war.
Blieb allein der Junge, von dem man nicht wußte, ob er in den vergangenen Jahren überhaupt je mit der deutschen Sprache konfrontiert worden war. Wenn man bedachte, daß er bei einer Chinesin aufgewachsen war. Auch meine Dame von der Münchner Taipeh-Vertretung, die sich mächtig anstrengte, Details in Erfahrung zu bringen, konnte mir dazu keine genauen Informationen geben. Schließlich meinte sie: »Wenn das Kind mal da ist, werden wir schon sehen.«
Ich fragte mich, wie das für den Jungen wohl sein würde, einerseits die zwangsläufige Fremdheit, die sich ergab: der nie gesehene Vater, das nie gesehene Land, eine vielleicht nie gehörte Sprache. Aber natürlich auch, wie es für mich selbst sein würde, der ich mit Kindern nicht die geringste Erfahrung besaß, nicht einmal als Bademeister in diesem so gut wie kinderlosen Schwimmbad. Ich wußte so wenig über die Hege und Pflege eines Siebenjährigen.
Wer würde mir da helfen können? – Wobei ich keineswegs mit dem Jungen nach Köln zu meinen Eltern wollte. Das war mir schon früher bei Freunden und Verwandten als das Allerletzte erschienen, wenn sie ihre Kinder an die eigenen Eltern weitergaben. Und sich damit alles Schreckliche und Dumme wiederholte. Klar, jeder machte Fehler. Aber eigene, neue Fehler waren doch was anderes als fremde, alte Fehler.
Und dann kam der Junge. Ein Flugzeug brachte ihn, wie andere Kinder der Storch.
Ich fuhr nach München, wo das erste Treffen in einem Raum der Taipeh-Vertretung stattfinden sollte. Ich nahm den Zug, nicht nur wegen der Kürze der Strecke. Seit meinem Erlebnis über dem Ostchinesischen Meer mied ich die Luftfahrt. Denn trotz der überaus geringen Wahrscheinlichkeit, gleich zweimal im Leben in ein abstürzendes Flugzeug zu geraten, konnte man ebenso sicher sagen, daß, wenn dieses zweite Mal eben doch eintrat, man es kaum überleben würde. Zweimal abstürzen führte selten bis nie zu zweimal überleben.
Zug also. München also.
Jetzt endlich begegnete ich ihr leibhaftig, meiner Telefonpartnerin, die den Namen Heinsberg trug, Frau Heinsberg, in der Tat eine Deutsche, aber sehr viel jünger als vermutet, auch sehr viel zarter. Sie wirkte nervös. Nicht wie ein Prüfling, eher wie ein Prüfer, der um die Schwere des Gegenstands weiß.
Frau Heinsberg bat mich in einen leeren Raum. Wir setzten uns. Sie redete ein wenig umher – um den heißen Brei, wie man so sagt. Ich fragte sie, gemäß unserer bislang recht direkten Verständigungsweise: »Sie stottern doch wohl nicht, weil Sie so aufgeregt sind, mich endlich zu sehen?«
Sie lachte. Sehr hübsch. Hübsch und verlegen. Dann sagte sie: »Bevor ich viele Worte mache, hole ich einfach den Jungen, okay?«
»Ich bin bereit«, erklärte ich und nahm eine aufrechte Haltung ein.
Sie ging nach draußen und kam zurück mit dem Kind an ihrer Hand.
Simon!
Ich blies durch die Nase, und mein Brustkorb sank ein.
Nein, nicht darum, weil er etwa in einem Rollstuhl saß. Er war auch kein Zwilling oder zu dritt oder mißgebildet oder zwei Meter groß. Es waren vielmehr seine Augen, die mich aufschrecken ließen: die markante Hautfalte an den inneren Augenwinkeln. Es konnte gar kein Zweifel bestehen, daß wenigstens ein Elternteil dieses Kindes asiatischer Abstammung sein mußte.
Ich fragte: »Was soll das?«
»Das ist Simon«, sagte Frau Heinsberg, »der Sohn von Frau Dr. Senft.«
»Ja, daß das Lanas Sohn ist, kann ich vielleicht glauben, aber …«
»Wir hatten keine Ahnung, wirklich nicht, Herr Braun. Es gab hier einige Mißverständnisse.«
»Ach was?!«
»Wir sind natürlich davon ausgegangen, Simon sei das Kind zweier deutscher Eltern. Die Tainaner Behörde hat uns in keiner Weise mitgeteilt, wie wenig das der Fall sein kann.«
»Aber Sie müssen doch Fotos gesehen
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