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Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Titel: Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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drehte die Fernseherlautstärke voll auf, um das selbstgefällige Gesumme zu übertönen, das er beim Tippen auf seiner Tastatur von sich gab. Irgendwelche Eierköpfe quasselten auf dem History Channel über alte Kriegsfilme. Ich mochte alte Kriegsfilme und wollte in meinem Merkheft notieren, was die Schlauberger zu sagen hatten.
    »Meiner Ansicht nach steht die in der Massenkultur anhaltende Nutzung der Nazis als Schurken in Zusammenhang mit der Tatsache, dass es sich bei ihnen um die unzweideutige Verkörperung des Bösen handelt, welches inzwischen jedoch so gut wie unschädlich gemacht worden ist«, sagte ein bärtiger Mann mit Brille. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich den Mann auf dem Bildschirm als denselben Professor der Fachrichtung Film an der NYU wiedererkannt hatte, der während der letzten paar Wochen auf allen Kanälen zu sehen gewesen war und vom Ende der Tough-Guy-Ära geredet hatte.
    »Wir dürfen sie hassen«, fuhr der Professor fort, »aber wir brauchen sie nicht zu fürchten, denn sie sind bezwungen. Sie sind begraben. Sie sind nur noch ein Anachronismus.«
    »Wie kommst du eigentlich ins Internet«, fragte ich Tequila. »Ich hab hier keins, und dein Computer ist nicht mal angeschlossen.«
    »Ich hab mich in das WiFi-Netz deines Nachbarn eingeklinkt.«
    »Aha. Verstehe«, sagte ich, obwohl ich nichts verstand.
    »Wenn sie also begraben sind, warum beharren wir dann darauf, sie immer wieder auszugraben?«, fragte der rotgesichtige und korpulente Moderator. »Warum sollten wir uns symbolisch einen Anachronismus als vorrangige Inkarnation des Bösen erhalten?«
    Tequila schaute von seinem Bildschirm zu meinem auf. »Warum siehst du dir das an?«, fragte er.
    »Warum macht überhaupt jemand irgendwas?«
    Für sechs Dollar auf der Kreditkarte hatte Tequila sich Einsicht in Avram Silvers Akte bei der Polizei von St. Louis verschafft. Darin fand sich auch die Adresse des Hauses, in das Silver eingebrochen war. Das Haus Heinrich Zieglers. Im Polizeibericht über die Festnahme Silvers wurde als Hausbesitzer ein gewisser Henry Winters erwähnt. So erfuhren wir, welches Pseudonym Ziegler sich zugelegt hatte. Und bei der Suche in den Aufzeichnungen über Immobilienverkäufe brauchten wir nur ein paar Tasten auf Tequilas Tastatur anzuschlagen, um zu erfahren, dass Ziegler das Haus 1996 verkauft hatte. Als Nachsendeadresse hatte er Meadowcrest Manor angegeben.
    »Meadowcrest Manor?«, fragte ich Tequila. »Meinst du, er hat seine Goldbarren verscherbelt und sich ein Gutshaus gekauft?«
    »Nein«, sagte Tequila. »Sieh dir das hier an.«
    Der Bildschirm des Computers verriet uns, dass Meadowcrest Manor eine Hausgemeinschaft mit Rundumbetreuung für aktive Senioren war, mit anderen Worten ein Pflegeheim. Mich schauderte es.
    »Die Nazis sind allseits zu erkennen, selbst von einem historisch nur unzureichend gebildeten Publikum«, sagte der bärtigeProfessor. »Springerstiefel und Hakenkreuze und der deutsche Akzent fügen sich zu einer leicht erkennbaren Kurzformel für das Böse. Aber wir dürfen die Nazis hassen, ohne sie fürchten zu müssen, denn sie existieren nur jenseits unserer persönlichen Erfahrung. Weil sie verschwunden sind.«
    »Ich habe auf den Fachdatenbanken von LexisNexis in den Zeitungen von St. Louis nach Henry Winters gesucht, aber keinen Nachruf gefunden. Also kann ich nur vermuten, dass er noch immer dort ist. In Meadowcrest«, sagte Tequila.
    Ziegler war seit mehr als einem Jahrzehnt im geschlossenen Pflegeheim. Geschah ihm recht, aber er war der schlimmste Gegner, dem ich je gegenübergestanden hatte, der einzige, der mich je an den Rand des Abgrunds gebracht hatte. Wie konnte es sein, dass er so gebrechlich geworden war?
    »Das heißt also, wir dürfen sie uneingeschränkt verachten, weil wir nicht die geringste Spiegelung von uns in ihnen entdecken, denn sie kommen aus der Fremde und sind zudem Relikte einer Zeit, die nur von begrenzter Bedeutsamkeit für die Moderne ist«, sagte der Fernsehmoderator.
    Der Computer verriet zudem eine Kontaktnummer des Israelischen Ministeriums für Angelegenheiten der Diaspora. Sie gehörte zum New Yorker Büro der Behörde. Tequila hatte dort mit einer neuen Art Mobiltelefon angerufen, das selbst ein winziges Internet war. Ich verstand gar nicht, wie er mit dem Ding wählte, denn es hatte keine Tasten.
    Die israelische Behörde bestätigte, dass Jitzchak Steinblatt bei ihr angestellt war, dass er sich in Memphis befand und zu meiner Beschreibung

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