Der Altman-Code
allem die Frage, wieso jemand wie McDermid die U-Bahn benutzte. Musste er nicht weit fahren? Wollte er im Reich eines anderen Mannes keinen Firmenwagen und kein Personal in Anspruch nehmen? Hatte er das Chaos und die Staus auf den Straßen satt? Wollte er Kosten sparen? Oder sollte, was wahrscheinlicher war, niemand, nicht einmal ein Chauffeur oder Taxifahrer, wissen, wohin er unterwegs war? Die Fahrt verlief erstaunlich ruhig und erschütterungsfrei. McDermid hielt es nicht für nötig, sich umzuschauen. Offensichtlich schien er es für ausgeschlossen zu halten, dass jemand ihn beschatten könnte. Ein paar Haltestellen weiter stieg er an der Station Wanchai aus. Wieder zwängte sich Smith erst im letzten Moment, als McDermid schon gut zehn Meter entfernt war, durch die sich bereits schließende Tür nach draußen. Er eilte zur Hennessy Road hinauf, wo McDermid, anscheinend die Ruhe in Person, gemächlich dahinspazierte. Smith folgte ihm durch Wanchai, Hongkongs ehemaligen Rotlichtbezirk. Nach der Übergabe Hongkongs waren für das ehedem wegen Sex und Drogen berüchtigte Viertel schwere Zeiten angebrochen. Das hatte zur Folge, dass das aufstrebende Finanzzentrum der Stadt den Sektor immer weiter vereinnahmte. Überall schossen neue Hochhäuser aus dem Boden, und die neuesten und besten Hotels verlangten und erhielten für ein Zimmer über dreitausend Dollar pro Nacht.
Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte McDermid die neonerhellte Lockhart Road hinunter, wo sich die meisten der Sex-Etablissements befanden, die sich noch hatten halten können. Hier wurde Wanchai noch seinem grell ordinären Ruf gerecht. Wanchai-Mädchen lungerten an Bareingängen herum und bedachten jeden Mann, der aussah, als hätte er etwas Geld in der Tasche, mit einem versierten Pssst. Es gab marktschreierische Hostessen-Clubs, Oben-ohne-Bars, Diskos und laute englische und irische Pubs. Die Schilder und Schlepper, die Leuchtreklamen und Lockangebote waren immer noch laut und grell und schilderten den Ausgehungerten und Einsamen die auf sie wartenden Freuden in den leuchtendsten Farben.
Aber irgendwie war die Luft trotzdem raus. Weder Smith noch McDermid bedachten die abgehalfterten Vergnügungstempel mit mehr als einem flüchtigen Blick, wobei Smith sich wieder einmal fragte, wohin McDermid unterwegs war – und in welcher Absicht.
Schließlich bog der Altman-Boss in eine Nebenstraße und dann in ein altes Bürogebäude im Schatten eines funkelnagelneuen höheren blitzenden Büroturms aus Glas und Stahl. Die Straße war schmal. Straßenverkäufer packten ihre Sachen zusammen. Einige wenige Läden lockten mit Peep-Shows und Porno, Tattoos und Sexspielzeug.
Aus dem alten Ziegelbau kam ein steter Strom von Büroangestellten, die den Heimweg in die Hügel und Vorstädte antraten, Ausdruck der kulturellen Schizophrenie, zu der Wanchai geworden war.
Mit wachsender Neugier schlüpfte Smith unter dem Schutz der ins Freie strömenden Menschen in die marmorverkleidete Eingangshalle, wo er Ralph McDermid vor einer Reihe fein ziselierter Fahrstühle stehen sah.
Nachdem eine Kabine einen kleinen Strom von Menschen entladen hatte, stieg McDermid ein. Da alle nach Hause gingen, war er der einzige Fahrgast. Smith beobachtete die Stockwerkzahlen, die über der Lifttür aufleuchteten. McDermids Fahrstuhl hielt im zehnten an und kehrte dann wieder nach unten zurück.
Smith betrat eine andere Kabine und drückte auf den Knopf für den elften Stock. Als der Lift dort anhielt, stieg er aus und rannte eine Etage tiefer. Im zehnten Stock spähte er durch die Verbindungstür vom Treppenhaus aus auf den leeren, marmorverkleideten Flur. Wohin war McDermid verschwunden? Als drei Chinesinnen aus einem der Büros kamen und munter schnatternd zu den Fahrstühlen gingen, zog sich Smith hastig ins Treppenhaus zurück. Während er dort, mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt, ihrer Unterhaltung lauschte, bedauerte er wieder einmal, kein Chinesisch gelernt zu haben.
Bevor er wieder nach draußen schauen konnte, ertönten auf dem Gang erneut Schritte. Sie stoppten vor dem Lift, wo immer noch die drei Frauen standen und sich unterhielten. Weitere Türen gingen auf und zu, und auf dem Flur wurde es wieder still … bis auf ein Huschen, das direkt an seiner Tür vorbeikam.
Als Smith sie darauf einen Spaltbreit öffnete und nach draußen lugte, sah er eine Chinesin in der typischen schwarzen Arbeitskluft und dem Strohhut einer Bäuerin durch eine Tür am Ende des
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