Der Altman-Code
mitbekam, dass überhaupt Licht brannte, als könnte in der Abgeschiedenheit im Innern seines Kopfes nichts Ablenkendes existieren.
Indem er im Stillen Schritt für Schritt Macht angehäuft hatte, war Niu Jianxing ein äußerst wichtiger Mann geworden. Seit seinem Eintritt in Partei und Regierung hatte er festgestellt, dass Ruhe sich enorm positiv auf Konzentrationsfähigkeit und Entscheidungsfindung auswirkte. Oft saß er bei Sitzungen des Politbüros und des Ständigen Ausschusses so wie jetzt vollkommen still da. Zunächst hatten die anderen gedacht, er schliefe, und hatten ihn als politisches Leichtgewicht vom Land aus Tianjin abgeschrieben. Sie redeten, als wäre er nicht da – oder genauer: als existiere er gar nicht –, bis zum nachhaltigen Bedauern einiger, die sich zu offen geäußert hatten, klar wurde, dass er jedes Wort mitbekam und ihre Probleme in der Regel gelöst oder als irrelevant abgetan hatte, bevor sie überhaupt dazu kamen, sie auszusprechen.
Danach verpassten ihm seine Bewunderer den Spitznamen »die Eule«, der sich in seiner Eingängigkeit rasch auch in der Bevölkerung verbreitete und ihn in den Rang eines Mannes erhob, dessen Namen man sich merken sollte. Gewiefter Politiker und geschickter Taktiker, der er war, hatte er ihn zu seinem persönlichen Markenzeichen gemacht.
Im Moment befasste sich die Eule mit dem beunruhigenden Gerücht, dass einige seiner Kollegen im Ständigen Ausschuss wegen der Unterzeichnung des Menschenrechtsabkommens mit den USA, für dessen Zustandekommen er eingetreten war, Bedenken bekommen hatten. Er hatte den Vormittag darauf verwendet, seine Fühler auszustrecken, wer diese Quertreiber sein könnten.
Eigenartig war vor allem, dass er keinerlei Hinweise auf einen so massiven Dissens erhalten hatte, zumal dieser Umstand auf eine organisierte Opposition hindeutete, die nur den richtigen Augenblick abwartete, um sich zu erkennen zu geben und das Abkommen zu torpedieren. Gerade jetzt, vor Chinas Eintritt in die kapitalistische Welt, war es unvermeidlich, dass einige Regierungsmitglieder, um nichts von ihrer Machtfülle einzubüßen, darauf hinarbeiten würden, sein Zustandekommen zu verhindern.
Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Augen flogen auf. Die Fenster waren mit Jalousien gegen den hellen Beijinger Tag und die prächtigen Gärten von Zhongnanhai abgeschottet. Die Jahre hatten ihn die enorme Wichtigkeit seines abgeschirmten Büros gelehrt.
Das einmalige Klopfen ertönte wieder – er kannte es nur zu gut. Es kündigte immer Probleme an.
»Kommen Sie herein, General.« VBA-General Chu Kuairong, i. R., marschierte in den abgeschirmten Raum, nahm seine Mütze ab und setzte sich vornübergebeugt auf den harten Holzstuhl vor dem Schreibtisch. Er hatte ein narbiges Gesicht, breite Schultern und einen mächtigen Brustkorb. Seine winzigen Augen waren von tiefen Wind-und-Wetter-Falten umgeben.
Der General kniff sie zusammen, als betrachtete er Niu in grellem Wüstenlicht. Sein kahl rasierter Schädel spiegelte im Lichtkreis der Schreibtischlampe wie polierter Stahl.
In seiner ordenübersäten Uniform ähnelte er einem alten Sowjetmarschall, der über die Zerstörung Berlins im Zweiten Weltkrieg meditierte.
Nur die dünne Zigarre zwischen seinen Zähnen störte das Bild. »Es handelt sich um einen Spion.«
»Major Pan?« Die Eule ließ sich seine Ungeduld nicht anmerken.
»Ja. Major Pan glaubt, unter Umständen hört Dr. Liang nur die Flöhe husten, aber sicher ist er nicht.« General Chu war der Leiter des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, eines der staatlichen Organe, die Nius Kontrolle unterstanden. Major Pan war einer der Top-Agenten des Generals. »Es ist nicht auszuschließen, dass Oberst Smith ein Geheimagent ist, der sich aus einem ganz bestimmten Grund nach China hat einladen lassen. Zum Beispiel Wissenschaftsspionage.«
»Was verleitet Major Pan zu dieser Annahme?«
»Zwei Gründe. Erstens gibt es in Smiths Personalakte ein paar Ungereimtheiten. Kurze, mehr oder weniger unbegründete Phasen der Abwesenheit von seinem Labor bei USAMRIID. Wie sich herausgestellt hat, ist Smith nicht nur Arzt und Wissenschaftler. Selbst für einen Wissenschaftler im Militärdienst hat er eine sehr gründliche militärische Ausbildung.«
»Und der zweite Grund?«
»Major Pan hat bezüglich Smith so ein ›Gefühl‹.«
»Ein Gefühl ?« General Chu blies einen perfekten Ring aus Zigarrenrauch in die Luft. »Im Lauf der Jahre, die ich die
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