Der Altman-Code
Lebensbedingungen wollten. Wir waren wild, und wir hatten große Führer.
Aber nach und nach ging unsere große Zeit zu Ende – zu viel kleinliches Gezänk, zu viele kleine Führer mit kleinen Königreichen, regiert von immer kleineren Geistern. Im neunzehnten Jahrhundert ging es dann vollends bergab mit uns, wie das bei jedem Volk früher oder später der Fall ist.« Er sah Smith über sein Glas hinweg an. »Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Amerikaner.« Smith nickte, ohne sich damit auf etwas festzulegen.
Mahmout trank nachdenklich von seinem Bier. »Zuerst kamen die Russen, die ein Auge auf Indien geworfen hatten und sich auf dem Weg dorthin ganz nebenbei auch uns unter den Nagel rissen. Ihnen folgten die Chinesen, weil sie unser Land als das ihre betrachteten. Zum Schluss kamen die Briten, die ›ihr‹ Indien schützen wollten. Sie nannten es das Große Spiel. Der einzige Unterschied für uns und den Rest der Welt besteht darin, dass es jetzt die Amis sind, nicht die Engländer.«
»Und die Uiguren? Was machen die?«
»Ah, jetzt wären wir bei der entscheidenden Frage.
Wir wollen natürlich unser Land zurück. Beziehungsweise, weil wir nie ein ›Land‹ im europäischen Sinn des Wortes besaßen, sondern nur ein Volk waren, wollen wir eigenen Grund und Boden haben.«
»Ist das Ihre Untergrundbewegung?«
»So könnte man es nennen. Im Moment sind wir zwar nicht viele, aber wir werden immer mehr in Xinjiang, hinter der Grenze in Kasachstan und in anderen Gebieten.
Leider sind wir nur eine Widerstandsbewegung, ein Ärgernis. Nur ein Haufen Unruhestifter, Saboteure und Banditen. Wir versetzen den Han kleine Stiche. Die Han behaupten, es gibt nur sieben oder acht Millionen von uns. Wir sagen, wir sind dreißig Millionen. Aber selbst dreißig Millionen auf Pferden und Pickups können gegen eine Milliarde mit Panzern wenig ausrichten. Trotzdem müssen wir Widerstand leisten. Das liegt uns, wenn sonst schon nichts, im Blut. Es hatte zur Folge, dass wir eine ›autonome Region‹ geworden sind. Grundsätzlich ist das natürlich nichts als Augenwischerei, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass Ürümqi bereits eine hanchinesische Stadt ist. Aber es zeigt, dass wir den Chinesen immerhin so viel Ärger gemacht haben, dass sie uns zu bestechen versuchen.« Smith füllte seinen Teller nach. »Und deshalb haben Sie Mondragon von dem alten Mann erzählt, der behauptet, der Vater unseres Präsidenten zu sein, stimmt’s?«
Mahmout nickte. »Wer kann schon sagen, ob er es ist? Auf jeden Fall ist der Mann Amerikaner, und die Chinesen halten ihn schon fast sechzig Jahre fest. Wir erhoffen uns, dass dadurch wieder verstärkte Aufmerksamkeit auf Chinas Missachtung der Menschenrechte und auf die systematische Vernichtung seiner Minderheiten gelenkt wird, insbesondere derjenigen von uns, die ganz und gar nicht-chinesisch sind. Rein geografisch ist für uns Kabul oder New Delhi wesentlich näher als Beijing.«
»Das dürften Sie damit auf jeden Fall erreichen – vor allem, wenn es sich wirklich um den Vater des Präsidenten handelt.«
»Dann ganz besonders.« Mahmouts weiße Zähne blitzten, als er lächelte.
Schließlich schob Smith seinen leeren Teller beiseite und griff nach seinem Bierglas. »Was wissen Sie über diesen alten Mann? Wo ist er?«
»In einem Lager bei Dazu. Das liegt etwa hundert Kilometer nordöstlich von Chongqing.«
»Was ist das für eine Art Lager?«
»Eigentlich mehr ein großer landwirtschaftlicher Betrieb, in dem hauptsächlich politische Gefangene zur ›Umerziehung‹ untergebracht sind, außerdem Kleinkriminelle und alte Männer, bei denen das Fluchtrisiko gering ist.«
»Also keine strengen Sicherheitsvorkehrungen?«
»Für chinesische Verhältnisse nicht. Das Gelände ist eingezäunt und wird bewacht, aber die Häftlinge sind in Baracken untergebracht, nicht in Zellen. Sie haben kaum Kontakt zur Außenwelt und erhalten selten Besuch. Der alte Herr, der behauptet, David Thayer zu sein, genießt gewisse Privilegien; zum Beispiel hat er ein eigenes Zimmer in den Baracken, das er sich nur mit einem Häftling teilen muss; außerdem erhält er Bücher, Zeitungen und spezielles Essen. Aber das ist schon so ziemlich alles.«
»Wie haben Sie von ihm erfahren?«
»Wie bereits gesagt, sind die meisten Lagerinsassen politische Gefangene, darunter einige Uiguren. Wir haben im Lager ein Aktivisten-Netzwerk, über das wir auch Informationen nach draußen schaffen. Thayer wusste, dass unsere Leute
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