Der Altman-Code
Mahmout fort: »Die Uiguren sind ein altes Turkvolk. Wir haben schon lange vor Ihrem Christus in den Wüsten, Bergen und Steppen des östlichen Zentralasiens gelebt. Auch lange vor der Zeit, bevor die Chinesen sich dazu aufraffen konnten, ihre Flusstäler im Osten zu verlassen. Wir sind entfernte Verwandte der Mongolen und nähere Verwandte von Türken, Usbeken, Kirgisen und Kasachen. Einst besaßen wir große Königtümer – Reiche, wie sie die Amerikaner jetzt gern hätten.« Er schwang seine Hand theatralisch über dem Kopf, als hielte er einen Säbel darin. »Wir ritten mit dem großen Dschingis Khan und dem legendären Tamerlan. Wir herrschten in Kaschgar und kontrollierten die berühmte Seidenstraße, von der Marco Polo bei seinem Besuch beim Enkel des Dschingis Khan schwärmte – dem Mann, der die großspurigen Han geschlagen und China unter seine Herrschaft gebracht hatte.« Er leerte sein Glas. Dann fuhr er finster fort: »Jetzt sind wir die Sklaven, wenn nicht sogar noch Schlimmeres. Die Chinesen zwingen uns, Han-Namen anzunehmen, HanChinesisch zu sprechen und uns wie Han zu verhalten.
Sie schließen unsere Schulen und weigern sich, uns in etwas anderem zu unterrichten als in HanChinesisch. Sie schicken Millionen ihrer Leute, damit sie in unseren Städten wohnen; sie zerstören unsere Kultur und vertreiben uns und die Kasachen von unserem Land, sodass uns nur die Wüste oder hochgelegene Steppengebiete als Lebensraum bleiben, wenn wir als Volk überdauern wollen. Sie lassen uns nicht zu Allah beten und reißen unsere historischen Moscheen nieder. Sie löschen unsere Sprache, unser Brauchtum, unsere Literatur aus. Mein Vater war Han.
Er blendete meine Mutter mit seinem Geld, seiner Stellung, seiner Bildung. Aber als sie sich weigerte, dem Islam abzuschwören, mich und meine Schwester wie Han zu erziehen und aus Kaschgar in die Pestilenzen des Jangtse-Tales oder die Sümpfe von Guangzhou zu ziehen, verließ er uns.«
»Muss schlimm gewesen sein für Sie.«
»Grauenhaft sogar.« Er ging zum Kühlschrank, um sich noch ein Bier zu holen, wobei er in Richtung Smith gestikulierte, ob er auch noch eines wollte.
Smith nickte. »Und Ihr britischer Akzent?«
»Ich ging in England zur Schule.« Er brachte das Bier zum Tisch und schenkte ein. »Der Vater meiner Mutter fand, ein westlich erzogener Mann könnte von großem Nutzen sein. Mein Volk wird untröstlich sein, wenn ich verhaftet werde.« Er hob die Schultern.
»Sie haben in London studiert?«
»Am Ende ja. Nach dem Besuch verschiedener Privatschulen ging ich schließlich auf die London School of Economics. Mag sein, dass meine Ausbildung hier ziemlich überflüssig erscheint.« Die Mikrowelle klingelte. Das Essen war fertig. Er trug die dampfenden Teller und Schüsseln auf und setzte sich wieder.
»Man will, dass Sie eine politische Führungsrolle übernehmen, falls China jemals demokratisch werden sollte.
Ich nehme an, Sie sind nicht der Einzige, der ins Ausland geschickt wurde.«
»Natürlich nicht. Es waren im Lauf der Jahre ein paar Dutzende von uns, darunter auch meine Schwester.«
»Ist denn die Weltöffentlichkeit über das Los der Uiguren informiert? Was ist mit den Vereinten Nationen?« Mahmout häufte geschmorte Hammelwürfel, Zwiebeln, Paprika, Ingwerstücke, Karotten, Rüben und Tomaten auf seinen Teller, und Jon folgte seinem Beispiel. Aus der großen Schüssel löffelten sie gebratenen Reis mit noch mehr Karotten und Zwiebeln. Dann tunkte Mahmout die Hammelwürfel in eine kleine Schüssel mit einer dunklen Flüssigkeit und aß dazu einen knusprigen Fladen, den er wie eine Scheibe Brot in der Hand hielt.
Smith, der ihm alles nachmachte, fand das Essen würzig und köstlich.
»Die UNO?«, sagte Mahmout zwischen zwei Bissen.
»Natürlich weiß sie über uns Bescheid. Aber wir haben keine Lobby, und für China ist das Ganze nur ein lästiges Ärgernis. Wir wollen unser Land, um darauf Getreide und Gemüse anzubauen und unsere Herden zu weiden. China dagegen will es, weil es reich an Bodenschätzen ist. Öl.
Gas. Mineralien. Schmeckt Ihnen der Hammel?«
»Ganz hervorragend. Wie nennen Sie diese Fladen?« »Nang.«
»Und den Reis?« Mahmout schmunzelte. Für jemanden, der mit solcher Bitterkeit sprach, lachte er ziemlich viel. »Wir nennen ihn ›Reis, der mit den Händen gegessen wird‹.« Er hob die Schultern. »Es ist immer das Gleiche mit den Völkern Zentralasiens. Wir zogen nach Westen, weil wir arm waren und besseres Land und bessere
Weitere Kostenlose Bücher