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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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Leinwand, blass, fast milchig grau, die Bäume hingekritzelte schwarze Striche, die sich davor abhoben. Mit aller Konzentration, die sie aufbieten konnte, beobachtete sie, wie die aufgehende Sonne Zweige und Äste, Astknoten und Blattadern, jedes zarte Detail, zu neuem Leben erweckte.
    Die dunklen Adern im weißen Marmor der Theke lasen sich wie eine Straßenkarte. Während sie an der Bar wartete, zog Claire die zarten Linien mit dem Finger nach. Das griechische Restaurant, in leuchtendem Königsblau und Weiß gehalten, erinnerte sie an den Sommer, in dem sie ihr Examen abgelegt hatte. Anschließend hatten Cal und sie zwei Wochen in Griechenland verbracht, waren von Insel zu Insel gefahren. Wie in einem Film sah sie sich und ihn auf Mopeds auf Samos, seine Weingärten grüne Bänder, das Meer saphirblau. Ein Dreieckstuch bändigte ihre Haare, ihr dünner Baumwollrock bauschte sich im Fahrtwind. Cal trug ein ärmelloses T-Shirt, das so untypisch für ihn war, dass sie nicht aufhören konnte, darüber zu lachen. Ihre Haut hatte nach einem Tag auf dem Moped, unterbrochen von Wanderungen und einem Picknick, Farbe bekommen, und selbst nach all diesen Jahren konnte sie die weißen Konturen des ärmellosen T-Shirts sehen, die sich auf seiner gebräunten Haut abzeichneten, als sie sich in dieser Nacht liebten.
    Beim Picknick hatten sie eine Flasche Wein getrunken, und als sie hinterher weiterfuhren, hätte Cal um ein Haar eine Mauer gerammt. Sie hatten sich fast ausgeschüttet vor Lachen, erfüllt von einem unbändigen Gefühl der Freiheit, dem irrigen Gefühl der Unsterblichkeit, das daher rührte, dass sie jung und kinderlos waren.
    Als Jack ihren Arm berührte, spürte sie, noch bevor sie ihn ansah, eine Art Knistern, das durch sie hindurchging. An seinen Schläfen zeigten sich silbrige Fäden, interessante Linien durchzogen sein Gesicht, seine Augen waren immer noch dunkelbraun, sein Mund immer noch schön geschnitten. Er küsste sie, leicht, elektrisierend, auf die Lippen, und setzte sich.
    Bedauern erfüllte sie, sobald sie anfingen zu reden. Nach ihrer früheren Vertrautheit und anschließenden Entfremdung war es fast schwerer, sich mit ihm zu unterhalten, als mit einem Fremden zu reden. Sie tauschten Fakten aus: die Zusammenfassung ihres Lebens seit Cal, ihre Kinder. Wie sie vermutet hatte, war er geschieden. Er hatte zu einem Drittel das Sorgerecht für seinen elfjährigen Sohn. Den größten Teil seiner Zeit widmete er seinem gesellschaftlichem Engagement: Er finanzierte progressive Dokumentarfilme, nahm an Netroots-Camps teil, debattierte mit den jungen, progressiven Mitgliedern innerhalb der demokratischen Partei. Ein politischer Sugardaddy, dachte Claire – einer mit genügend Geld, um nicht arbeiten zu müssen.
    Nach einem Glas Wein zogen sie an einen Tisch um und tasteten sich zu der Vertrautheit zurück, die früher zwischen ihnen geherrscht hatte.
    »Erinnerst du dich noch an die Nächte im Hüttendorf?«, fragte er. Zusammengestückelt aus Holzresten, dazu gedacht, die Unmenschlichkeit des rassistischen Systems in Südafrika aufzuzeigen, sahen die Anti-Apartheid-Slums auf dem makellosen Campus von Dartmouth ausgesprochen abstoßend aus. Sowohl Claires Beziehung zu Jack als auch ihre Politisierung hatte in den baufälligen Gebilden Form angenommen. Sie hatten viele Nächte in einer der Hütten verbracht, sich oft auf einem Teppich aus Pappkartons geliebt. Die Hütten ließen sich natürlich nicht abschließen, und ein derartiges Risiko einzugehen, so untypisch für sie, war erregend gewesen. Die Luft, die durch die Ritzen und über ihre nackte Haut strich, die nur vom Zirpen der Grillen durchbrochene Stille in den wenigen Stunden, in denen der Campus schlief. Sie erinnerte sich an alles und sah darin, dass er die Erinnerung heraufbeschworen hatte, ein erotisches Vorzeichen für den weiteren Abend.
    Sie waren kaum mit der Vorspeise fertig, als Jack sagte: »Was tut sich eigentlich in Sachen Gedenkstätte?«
    Sie erzählte ihm, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie sich gegen die Familien stellte, die Khan ablehnten, auch wenn sie fest davon überzeugt war, dass diese Einstellung falsch war. Aber auch, dass sie selbst nicht mehr wusste, was sie von Khan halten sollte. Als sie ihm ihr Herz ausschüttete, fühlte sich die Last ihrer Entscheidung zum ersten Mal seit Wochen etwas leichter an.
    »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mit einem Bein in New York und mit dem anderen in Amerika stehe«,

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