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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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sagte sie.
    »New York ist Amerika.«
    »Du weißt, was ich meine – wir denken hier so anders, so atypisch. Wir sind eine so kleine Minderheit in unserem eigenen Land. Wir Liberalen, meine ich.«
    »Was nicht heißt, dass wir im Unrecht sind.«
    »Aber auch nicht, dass die anderen es sind.«
    »Dann haben also alle recht? Wie soll denn das funktionieren?«
    »Ich meine ja nur, dass alles zwei Seiten hat, auch diese Geschichte. Möglicherweise sogar mehr als zwei. Ich meine, die Proteste waren furchtbar, aber eigentlich soll ich die Angehörigen repräsentieren. Ich bin eine von ihnen, wir teilen diese schmerzliche Erfahrung. Dass so viele von ihnen auf dieser Kundgebung waren, war ihre Art, mir zu sagen: ›Du hast uns im Stich gelassen, du hast uns verraten.‹ Ich habe sozusagen die Verpflichtung, ihren Standpunkt zu verstehen.«
    »Manche Dinge verdienen es nicht, verstanden zu werden. Die Apartheid hatte es nicht verdient, verstanden zu werden, auch wenn die Weißen, die davon profitierten, das natürlich anders sahen.«
    Diese zweite Anspielung auf ihre gemeinsame Vergangenheit irritierte sie, tauchte seine erste Erwähnung des Hüttendorfs in ein völlig anderes Licht, das weder erotisch noch zufällig war. Als er schließlich sagte: »Die Gedenkstätte ist der eigentliche Grund dafür, dass ich mich mit dir in Verbindung gesetzt habe«, war es eigentlich nicht mehr nötig, sie darauf hinzuweisen. Trotzdem empfand sie seine Worte wie einen Schlag ins Gesicht. Er war nur hier, um sie an ihre gemeinsamen Werte zu erinnern, um diese Werte wieder heraufzubeschwören. Bloß sah sie jetzt, dass es eigentlich seine Werte waren. Mit zwanzig hatte sie sich so begeistert dafür eingesetzt, weil er es tat, weil sie seine Billigung wollte, was im Nachhinein betrachtet bedeutete, dass sie kein besonders geeigneter Boden für die Aussaat von Prinzipien war. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie an dem Abend in Gracie Mansion nicht nur Cals Prinzipien verteidigt hatte, sondern auch die von Jack. Es verwirrte sie zutiefst, nicht zu wissen, wo die Prinzipien des einen Mannes endeten und die des anderen begannen. Nicht zu wissen, welche ihre eigenen waren.
    Sein Ton war ernst, drängend.
    »Deine Unterstützung muss bedingungslos sein. Es steht so viel mehr auf dem Spiel als nur eine Gedenkstätte. Ich weiß, du hattest furchtbar viel eigenen Schmerz zu verkraften, vielleicht war es in dieser Zeit nicht leicht zu verfolgen, was in diesem Land vor sich geht. Aber seit den Anschlägen hat jeder Angst, als unpatriotisch zu gelten, Angst, die Regierung zu hinterfragen, die Politiker. Diese Angst war Rechtfertigung für Kriege, Folter, Heimlichkeiten, Vertuschungsmanöver, alle möglichen Verletzungen von Rechten und Freiheiten. Lass nicht zu, dass sie auch Rechtfertigung dafür ist, Khan die Gedenkstätte wegzunehmen. In den letzten Jahren hat sich alles nur darum gedreht, Werte aufzugeben. Gib der Angst nicht nach. Verwechsle den Absolutismus von Khans Gegnern nicht mit Moral …«
    Irgendwie schaffte er es, das alles und noch mehr zu sagen, während er gleichzeitig sein Lamm aß, eine bemerkenswerte Leistung angesichts der Tatsache, dass er kein einziges Mal mit vollem Mund sprach und Claire kaum einen Ton von sich gab. Dagegen lag ihr gegrillter Fisch fast noch unberührt auf ihrem Teller. Die Enttäuschung hatte ihr den Appetit verdorben. Eigentlich war das hier genau das, was sie gewollt hatte – jemand, der ihr die Hand reichte, denselben Standpunkt vertrat wie sie, ihr den Rücken stärkte –, aber es hatte nicht die gewünschte Wirkung. Wie albern sie sich vorkam, und wie deprimierend es war, sich für ein Date schön gemacht zu haben und sich stattdessen einen politischen Vortrag anhören zu müssen.
    Da sie irgendwie ein letztes Wort haben wollte, ein letztes Irgendwas, schlug sie unter dem Vorwand, der Babysitterin versprochen zu haben, um elf zurück zu sein, einen Gute-Nacht-Drink bei sich zu Hause vor. Sie hoffte, dass er daraus schließen würde, dass sie sich von diesem Abend nichts anderes als ein freundschaftliches Wiedersehen erwartet hatte. Er fuhr hinter ihr her. Im Rückspiegel sah sie seine Scheinwerfer durch die Dunkelheit flackern, ihr Licht im einen Moment wie der tröstliche Schein eines Leuchtturms, im nächsten so bedrohlich, als sei jemand hinter ihr her, wie in einem Traum, der Rettung und Verfolgung verschwimmen ließ. Als sie vor dem Haus anhielt, schaltete sich die automatische Beleuchtung

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