Der amerikanische Architekt
Franks weiße Haare in eine Art Heiligenschein. Seine blauen Augen waren vom Alter nicht trübe geworden, seine Haltung war kampflustig. Er sah seinem Sohn nach, der die Treppe hinunterging, setzte seine Brille auf und verlas einen vorbereiteten Text: »Der Garten ist unzureichend« – er geriet ein wenig ins Stottern – »heroisch, um derer zu gedenken, die wir verloren haben. Wir wünschen uns eine beeindruckendere Gedenkstätte, eine, die nicht den Anschein erweckt, Amerika lege sich zu den Lämmern ins Gras, statt zurückzuschlagen. Wir wollen, wir wollen –«
Er setzte seine Lesebrille ab und sah das Publikum an. »Ich habe nichts gegen irgendwen persönlich«, fuhr er fort. Dann schien sein Gesicht zu zerbröckeln. Gegen ihren Willen fühlte Alyssa sich an die in sich zusammenstürzenden Gebäude erinnert. Er stockte. »Aber … ich will nur sagen … ich habe meinen Sohn verloren. Ich habe meinen Sohn verloren!«
Alyssa hörte Schniefen, sah Menschen mit Tränen in den Augen. Das Publikum schien vor Khan zurückzuweichen, als gehe eine elektrische Strahlung von ihm aus.
»Mörder!« Die Stimme zerriss die Luft.
»Wie es aussieht, gibt es keine weiteren Sprecher«, kam es ausdruckslos von Rubin, ganz so, als habe er den Schrei nicht gehört. Aber er musste ihn gehört haben. Alle hatten ihn gehört. Die Gouverneurin hatte emotionalen Spannungsabbau gewollt, und Rubin spielte ihren Wasserträger, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.
»Wir werden noch eine weitere Woche lang Meinungsäußerungen in schriftlicher Form entgegennehmen, und ich versichere Ihnen, dass sie alle gelesen werden. Die Anhörung ist hiermit beendet.«
»Es sei denn, es sind noch Angehörige da, die noch nichts gesagt haben, aber zu Wort kommen sollten«, korrigierte Winnie ihn mit verbindlicher Stimme. »Gibt es noch Angehörige, die auf meiner Liste stehen sollten? Dann melden Sie sich jetzt.«
Ein Murmeln ging durch die Zuhörer und wurde so deutlich, dass Alyssa sich auf der Suche nach dem Grund dafür umdrehte. Ganz hinten im Saal sah sie eine Frau mit dunkler Hautfarbe und Kopftuch, die die Hand hob. Ein älterer Mann neben ihr versuchte, die Hand wieder nach unten zu ziehen. Der Arm fuhr erneut in die Höhe, wurde heruntergezogen, kämpfte sich nach oben, wurde wieder festgehalten. Hitziges Geflüster ging zwischen den beiden hin und her, bis die Frau sich schließlich frei machte, aufstand und mit lauter, für alle hörbare Stimme rief: »Ich!«
19
W ie so oft war Asma auch an diesem Morgen um die Zeit herum wach geworden, zu der Inam sich immer verabschiedet hatte. Ihr Körper hatte hier von ganz allein eine Art Markierung gesetzt. Viele Monate lang hatte sie in der Stille der ersten Augenblicke des Wachseins gedacht, Inam sei noch am Leben. Inzwischen wusste sie, dass das nicht der Fall war.
Niemand hatte sie angerufen, um sie zur öffentlichen Anhörung einzuladen. Eine Einladung per Post war auch nicht gekommen. Sie wusste nicht, was auf der Anhörung geschehen würde – würde es eine Abstimmung geben? –, aber sie wollte dabei sein. Sie war ebenso eine Angehörige wie die weiße Frau, die sie so oft in den Nachrichten sah. Sie hatte ein vaterloses Kind und ein leeres Bett als Beweis.
Sie betete. Um Viertel nach sieben rief sie Nasruddin an, da sie wusste, dass er inzwischen aufgestanden, aber noch nicht zur Arbeit gegangen war.
Winzige Pailletten, die in der Mitte gelber Blüten vor einem leuchtendrosa Hintergrund blitzten – Inam hatte diesen Salwar Kamiz geliebt. Aus diesem Grund zog sie ihn heute an. Ohne ihr einen Grund zu nennen, bat sie Mrs Mahmoud, die vor Neugier schier platzte, auf Abdul aufzupassen, und ging zu Nasruddins Haus. Sein Lieferwagen, der hinter einem niedrigen schmiedeeisernen Tor in der engen Auffahrt stand, sah aus wie ein überdimensioniertes Tier in einem zu kleinen Käfig. Auch Nasruddin erinnerte sie an ein Tier in einem Käfig. Als sie sagte, sie wolle an der Anhörung teilnehmen, versuchte er, sie davon abzubringen. Wenn sie irgendetwas tat, was Aufmerksamkeit auf sie zog, würde sie Abduls Zukunft hier gefährden. Und wofür?
»Soll das heißen, dass ich nicht dorthin gehöre?«, zischte sie ihn an und bedauerte es auf der Stelle. Ohne Nasruddins Hilfe wäre sie in den letzten beiden Jahren verloren gewesen. Mit sanfterer Stimme bat sie: »Lassen Sie uns einfach hingehen und zuhören.«
Am liebsten wäre sie gehüpft und erkannte, dass es daran lag, dass sie
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