Der amerikanische Architekt
zum ersten Mal, seit die Sache mit den abgerissenen Kopftüchern angefangen hatte, aus dem Viertel herauskam. Sie fühlte sich frei! Nasruddin dagegen genoss den Ausflug nicht annähernd so wie sie. Auf dem Weg zur U-Bahn redete er unablässig auf sie ein. Sein Wortschwall schien sich ziellos hierhin und dorthin zu schlängeln, aber darunter verlief eine zielgerichtete Unterströmung. Er erzählte ihr, wie er nach Amerika gekommen war, mit neunzehn, jünger als sie. In Kensington hatten damals lange nicht so viele Menschen aus Bangladesch gelebt wie jetzt. Er war einsam gewesen. Sein Englisch war schlecht, und er fragte sich oft, was er eigentlich hier wollte. Aber langsam und allmählich erkannte er es. Was Nasruddin an Amerika so schätzte, das war seine Systematik, seine Vorhersehbarkeit. Man konnte der Regierung trauen, sogar völlig Fremden, nicht nur der eigenen Familie oder den Bewohnern des eigenen Dorfes, so wie zu Hause. Dort hingen Resultate nur allzu oft von den willkürlichen – oder vielmehr begehrlichen – Launen Einzelner ab. Fast nichts geschah, ohne dass Schmiergelder den Weg ebneten. Hier sammelte er zwar auch in der Gemeinde Spenden für lokale Politiker und die Polizeigewerkschaft und wusste, dass das Geld dazu beitrug, Gehör zu finden, beachtet zu werden, aber die Spenden wurden nicht verlangt, nicht erzwungen. Jedes Mal, wenn er Bangladesch besuchte, kehrte er mit neuer Wertschätzung für den Arzt in der Notaufnahme zurück, der die Schnittwunde an seiner Hand versorgt hatte, ohne darauf zu bestehen, dass er zur Nachbehandlung in seine Privatpraxis kam. Was von den meisten Amerikanern erwartet wurde, erschien ihm geradezu heldenhaft. Wenn er die Behörde aufsuchte, die Baugenehmigungen erteilte, gab man ihm die richtigen Formulare und nahm seinen Antrag entgegen, ohne mehr Geld zu verlangen, als auf dem Formular für die Bearbeitung vorgesehen war. Nasruddin hörte nie auf, Heimweh nach seinem eigenen Land zu haben, aber er liebte dieses hier.
Sie waren jetzt in der U-Bahn. Asma beobachtete eine Frau, die Gloss auf ihre volle Unterlippe auftrug. Sie liebte die Art, wie die Menschen in diesen öffentlichen Verkehrsmitteln ganz private Dinge taten, als seien sie zusätzliche Zimmer in einem Haus. Frauen puderten sich, wechselten hochhackige Schuhe gegen bequemere, aßen ihre Sandwiches, bliesen auf ihren Kaffee. Es war ihnen nicht peinlich, wenn andere die Konturen ihrer Unterwäsche oder die Farbe ihrer BH s sehen konnten, die Krampfadern an ihren Beinen oder die Leberflecken auf ihren Armen. Sie aßen, lasen, redeten, sangen und beteten, so wie auch sie es – aber nur still für sich – in diesem Augenblick tat.
Nasruddin redete immer noch. Nach den Anschlägen hatte es so viele Probleme gegeben. Asma hatte sich nicht damit befassen müssen, aber er. Die Verhaftungen waren am schlimmsten gewesen, die Deportationen, die Entscheidung, ob man sich freiwillig registrieren lassen sollte, die quälende Frage, ob man die Familie in Bangladesch besuchen und riskieren sollte, nicht wieder ins Land gelassen zu werden. Nun kehrte allmählich wieder Normalität ein. Sie durfte keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihr so schutzloses Gemeinwesen ziehen. Ständig trafen Neuankömmlinge ein, das gehörte nun einmal zu New York. Die Arbeit in den Mietshäusern gehörte längst nicht mehr allein denen, die aus Bangladesch kamen. Erst vor Kurzem hatte er in Hauseingängen Werbezettel polnischer Bauarbeiter gefunden, die gute Arbeit für wenig Geld anboten. Sie hatten ein Foto von sich abgedruckt. Weiße Männer in weißen Overalls, dicht zusammengedrängt, wie ein Strauß weißer Nelken. Was wollten sie damit bezwecken, fragte er Asma und gab die Erklärung selbst, ohne ihre Antwort abzuwarten. Sie wollten damit auf ihre Hautfarbe aufmerksam machen. Dann kam er auf seine Töchter zu sprechen. Er fragte sich oft, ob er sie nicht lieber in Bangladesch hätte großziehen sollen. Er wollte hier einen Kokon für sie schaffen, aber das war unmöglich. Wie kleine Küken hatten sie sich aus der Eierschale herausgepickt. Sie sahen die Welt um sich herum und wollten sie erkunden. Er redete so viel, dass Asma sich fragte, ob er sich je mit seiner Frau unterhielt. Zwei Jahrzehnte der Anspannung rauschten auf sie herab. Sie fühlte sich so geehrt, dass er ihr von seinen Sorgen erzählte, dass sie fast vergaß, dass sie selbst dazu beitrug.
In Lower Manhattan verließen sie die U-Bahn und schlängelten sich
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