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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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Kinder, die zum Fasten noch zu klein waren. Der Imam, dem Nasruddin geholfen hatte, aus Bangladesch hierherzukommen, forderte die Menschen auf, am Abend zum Iftar in die Moschee zu kommen und die Armen während des Ramadan nicht zu vergessen. Irgendjemand ließ Hindi-Musik aus einem Fenster schallen – Nasruddin, der Filme liebte, seine einzige Entspannung, versuchte vergeblich sich zu erinnern, aus welchem Film der Soundtrack stammte. Im Hintergrund waren Autohupen zu hören, das fröhliche Lachen von Kindern und –
    Der Schrei der Frau gellte derart laut durch die Luft, dass Nasruddins Haare sich sträubten. Er kam aus Asmas Richtung, aber er konnte nicht sagen, wer ihn ausgestoßen hatte – nichts an der Sprechstimme einer Frau verriet einem, auf welche Weise sie schreien würde, und dieser Schrei wurde sofort von seinem eigenen Echo überlagert, von Wellen von Echos, die von allen Seiten auf Nasruddin eindrangen. Kein Echo, erkannte er dann, sondern andere Frauen, die ebenfalls schrien. Aus Angst.
    »Sie ist verletzt«, rief jemand auf Bengali. »Wir brauchen einen Arzt!«
    Nasruddin drückte dem Mann neben ihm die Gepäckstücke, mit denen er beladen war, in die Arme und versuchte, sich durch die Menge zu drängen. Sie teilte sich, und dort hinten war Asma. Ihre Haut hatte eine kränkliche graubraune Färbung angenommen. Sie sah ihn und öffnete den Mund, als wolle sie ihm etwas Wichtiges sagen, aber es kamen keine Worte, zumindest keine, die er hören konnte. Ihr Körper neigte sich zur Seite, und ganz langsam, wie ein Hemd, das in eine Schachtel gefaltet wird, sank sie in sich zusammen. Die Menschen standen so dicht um sie herum, dass sie nicht einmal umfallen konnte. Vielmehr sackte sie, immer noch halb aufrecht, gegen eine Mauer aus bewegtem, beweglichem Fleisch. Aber ihre Augen hatten sich geschlossen, ihr Kopf baumelte unnatürlich schlaff herunter, und ihre Arme, die den inzwischen weinenden Abdul hielten, fingen an, sich zu lösen. Laila versuchte, den Jungen zu packen und Asma gleichzeitig an einem Arm festzuhalten. »Helft mir«, rief sie. »Sie ist ohnmächtig geworden! Haltet sie fest!«
    »Nein, wir müssen sie hinlegen«, rief jemand auf Bengali.
    »Haltet sie aufrecht!«
    »Legt sie hin!«
    Die Worte rasten durch die Menge und wieder zurück.
    »Ruft einen Arzt!«
    »Der Junge!«
    »Ein Arzt!«
    »Luft!«
    Und dann schrie jemand, eine Frau, auf Bengali: »Blut! Sie blutet! Sie blutet!« Und die Menge geriet in Panik und versuchte angstvoll, gleichzeitig in hundert verschiedene Richtungen auseinanderzuströmen, so dass sie nirgendwo hingelangte, festgehalten von den eigenen Gegenbewegungen, aufgewühlt wie Wasser, unter dessen Oberfläche ein Krokodil seine Beute verschlingt. Schreie, noch mehr Schreie, einige sehr nah, andere weit weg, gellten durch die Luft und schienen miteinander zu kollidieren.
    »Legt sie hin«, befahl Nasruddin im selben Moment, in dem die Menge sich wieder vor ihm schloss und er Asma erneut aus den Augen verlor. »Seid vorsichtig, vorsichtig. Holt Dr. Chowdhury!«
    »Dr. Chowdhury«, wurde der Name durch die Menge weitergereicht. »Dr. Chowdhury!«
    In diesem Augenblick war es Nasruddin völlig egal, was seine Hände berührten, wen er zurückriss, um sich durchzudrängen. Leute fuhren verärgert herum, erkannten ihn und murmelten Entschuldigungen, bevor sie sich wieder zurückdrehten, um zu gaffen. Nutzlose Männer umdrängten Asma wie störrische Kühe. Nasruddin peitschte sie mit seiner Stimme auseinander. »Weg da. Macht schon. Wenn ihr keine Ärzte seid, macht Platz. Wenn ihr nicht helfen könnt, macht Platz!«
    »Sie ist erstochen worden!«, hörte er jemanden rufen. Und er konnte sie immer noch nicht erreichen. »Erstochen!« In Panik versuchten Männer und Frauen wegzurennen und stießen miteinander zusammen, ohne zu wissen, ob ihre Hektik sie von der Gefahr fort- oder vielleicht näher an sie heranführte. Nasruddin zerschnitt die Zeit in so dünne Scheiben wie seine Frau den Ingwer schnitt, versuchte sich zu erinnern, alles einzufrieren, was er gesehen hatte – hatte ein weißer Mann in einem schwarzen Mantel hinter Asma gestanden, bevor er sie aus den Augen verlor? –, während er gleichzeitig registrierte, was vor ihm war: Eine weiße Frau, die ihren dunklen Mantel über Asma breitete, als Schutz gegen den Schock. Er lebte gleichzeitig in der Vergangenheit und in der Gegenwart: der weiße Mann, er war groß gewesen, aber neben Asma sah jeder groß

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