Der amerikanische Architekt
aus. Oder war sein Mantel blau gewesen? Hatte es überhaupt einen weißen Mann gegeben, oder war das nur Nasruddins Vorstellung davon, wer zu so etwas fähig wäre? Er versuchte, sich an den letzten Moment zu erinnern, in dem er Asma gesehen hatte, aber er musste sich eingestehen, dass er sie mindestens eine Minute vor dem Messerstich aus den Augen verloren hatte. Er war zu überhaupt nichts nutze. Dann fiel ihm plötzlich ein – wer immer das getan hatte, musste noch unter ihnen sein, niemand war sicher. Wie konnte er seine Leute schützen, ohne sie noch mehr in Panik zu versetzen? Es gab so viele unbekannte Gesichter, die sich unter die mischten, die er kannte, aber er musste auch die verdächtigen, die er kannte. »Seid vorsichtig«, rief er auf Bengali. »Wer immer das getan hat, ist noch hier. Seht euch um. Wir müssen ihn finden.«
So viel Druck in seinem Kopf, auf seinem Herzen. Er hätte die Drohungen gegen sie melden sollen, er hätte sie daran hindern müssen, an jenem Tag zu sprechen. Jetzt war er nicht nur besorgt, sondern auch krank vor Schuldgefühlen.
»Was ist passiert?«, hörte er Reporter einander fragen, aber auch jeden Bangladescher, dessen sie habhaft werden konnten. »Was sagen alle? Was ist mit ihr?«
Endlich erreichte er sie. Sie lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. In den dunklen Rinnsalen, die sich unter ihr ausbreiteten, sah Nasruddin das Blut, das zu Hause am Eid al-Adha, dem Opferfest, durch die Straßen floss, wenn Hunderte von Ziegen und Kühen und Schafen für das Fest geschlachtet wurden. Dr. Chowdhury war auch da. Er hob den Mantel und die Tücher an, dann hob er Asma selbst an, sanft, und zerriss ihr Oberteil, rot vor Blut, und enthüllte ein Stück blutbefleckter nackter brauner Haut, bevor er einen Druckverband anlegte und Asma wieder bedeckte. Nasruddin registrierte ihre geschlossenen Augen, die entsetzliche Blässe ihres Gesichts. Sie würde wissen wollen, ob sie entblößt worden war. Sie würde wollen, dass er ihr die ganze Szene beschrieb: Haben alle mich angestarrt? War ich tapfer? Wer hat Abdul genommen? Haben die Tanten sich um ihn gestritten, oder haben Sie ihn genommen? Was hat Mrs Mahmoud gemacht? Geschrien, würde ich wetten. Mussten die Sanitäter sie auch behandeln?
»Haben Sie ihn genommen?« Die imaginäre Frage riss Nasruddin aus seinem Schockzustand. Wo war Abdul? Nasruddin suchte die Menge ab. Hatte die Polizei ihn? Erleichtert sah er, dass Laila den immer noch weinenden Jungen in den Armen hielt. Das mechanische Klagegeheul einer Sirene wurde lauter, langsamer, als der Krankenwagen sich durch die Menge schob. Zwei Sanitäter hasteten durch die Lücke, die die Polizei frei geräumt hatte, und beugten sich über sie. Sie ließen sich nicht anmerken, in welcher Verfassung sie war, aber Nasruddin wusste es und brach in Tränen aus, als der Krankenwagen losfuhr. Beim Anblick des Mannes, der seine Gemeinde zwei Jahrzehnte lang beschützt hatte, jetzt jedoch der Tränen nicht Herr wurde und selbst so schutzlos wirkte, schien die Menge zu zerfließen. Frauen fingen an zu weinen, Männer knieten nieder, alle wiegten sich, wiegten sich.
Abdul: Er musste von hier weggebracht werden.
»Mrs Mahmoud! Bringen Sie Abdul nach oben«, befahl er und sah, dass Mrs Mahmoud zu Boden gesunken war. Sie würde sich zusammenreißen müssen, um dabei zu helfen, Asmas Leiche zu waschen. Das Gleiche galt für Mrs Ahmed, die auch am Boden kniete. Nasruddin packte Mr Mahmoud, deutete auf Laila Fathi und Abdul und sagte: »Bringen Sie sie nach oben. Sofort!« Und Mr Mahmoud, dessen Augen ebenfalls gerötet waren, führte sie davon, während ein Polizeibeamter den Weg für sie frei machte. Den Jungen nach Hause zu bringen war nur der Anfang, erkannte Nasruddin. Er würde Abdul, und Asmas Leiche, nach Bangladesch begleiten müssen. Allein der Gedanke daran machte ihn hilflos. Er allein in einem Flugzeug mit einem zweijährigen Waisenkind.
»Die Reporter! Die Reporter! Sie haben sie umgebracht!«, schrie jemand. Die Reporter waren überall in der Menge verteilt, wie Abfall in einem Flussdelta. Männer aus der Menge hatten einige von ihnen gepackt und hielten sie fest; andere Journalisten hatten vor einem Haus einen kleinen, schutzlosen Pulk gebildet, drückten sich mit dem Rücken an die Mauer. »Presse!«, riefen sie. »Wir sind Journalisten!« Einige hatten ein gekünsteltes Lächeln aufgesetzt, passend zu der Panik in ihren Augen.
Aufgebrachte Bangladescher drängten
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