Der amerikanische Architekt
über ihre Schulter – noch ein paar Schritte, und er würde sie auf die Hudson Street abgedrängt haben, aber sie konnte nicht sagen, ob das seine Absicht war, ob er sich überhaupt bewusst war, wo sie sich befanden, bloß dass er unaufhaltsam auf sie zukam und sie immer weiter zurückwich.
»Ich bin Amerikaner. Ich bin Amerikaner.« Noch ein Schritt, und sie würde vom Bürgersteig heruntertreten müssen. »Ich bin –«
»Warten Sie«, sagte sie und blieb so abrupt stehen, dass er fast mit ihr zusammenstieß. Sie machte die Augen schmal. »Sie sollten mir dankbar sein. Wenn ich die Story nicht gebracht hätte, hätten die Ihre Gedenkstätte einfach begraben. Sie hätten nie erfahren, dass Sie gewonnen haben.«
»Blödsinn!«, sagte er. Er atmete schwer, als wäre er gerannt. »Es wäre auf jeden Fall rausgekommen.«
»Aber ich bin diejenige, die es rausgebracht hat. Sie sollten mir dankbar sein.«
Khan stemmte die Hände in die Hüften und hob den Kopf. Alyssa trat einen Schritt zurück und sah, dass er lächelte. Auch sie hob den Kopf. Über ihnen schwebte ein sichelförmiger Mond, so blass, dass man meinen konnte, ein Fingernagel habe ihn in den Himmel geritzt.
NY 1 brachte die Story über Asma Anwars Tod immer und immer wieder, und Sean sah sie sich immer und immer wieder an, als sei sie ihm völlig neu. Kensington war nicht sehr weit vom Haus seiner Eltern in Ditmas Park entfernt – weniger als eine halbe Meile –, aber im Fernsehen sah es aus wie Indien. Hunderte von Bangladeschern füllten in Erwartung von Asma Anwars Weggang die Straßen und brachen bei der Nachricht von ihrem Tod in Tränen aus, und in Wut- und Angstgeschrei, weil der Mörder unter ihnen sein musste. Er hatte gewusst, dass Bangladescher in der Nähe wohnten – manchmal zogen dunkelhäutige Frauen in Kopftüchern hochbeladene Handkarren durch die Straße seiner Eltern –, aber er hatte nicht gewusst, dass es so viele waren. Immer wieder dachte er daran zurück, wie Asma Anwar nach der Anhörung an ihm vorbeigegangen war. Er hatte nichts zu ihr gesagt. Jetzt wünschte er sich, er hätte ihr gesagt, wie mutig er sie fand. Er wünschte, er hätte sich auch bei ihr dafür entschuldigt, dass er Zahira Hussain das Kopftuch abgerissen hatte, denn er hatte Angst, dass seine eigene destruktive Impulsivität eine andere ausgelöst hatte, die mörderischer war, ihr sozusagen den Freibrief ausgestellt hatte. Debbie war sicher, dass ein Muslim sie ermordet hatte, aber was Debbie für erwiesen hielt, entsprach wie durch ein Wunder immer ihrer persönlichen Einstellung. Er fragte sich, wer Asma Anwars Sohn großziehen würde.
Er ging nach unten. Seine Mutter saß allein im Wohnzimmer und arbeitete an einer Stickerei. Im weißen Licht der einzigen Lampe ließen ihre eingefrorenen Gesichtszüge sie aussehen, wie aus Marmor gemacht, nicht aus Fleisch.
»Setz dich ein Weilchen zu mir«, sagte sie, und er tat es. Er hörte das lustlose Ticken der Uhr. Das Klappern des Eiswürfelbereiters im Gefrierschrank. Den konzentrierten Atem seiner Mutter. Er würde sich daran erinnern.
»Ich will nicht mehr gegen Khan kämpfen«, sagte er unvermittelt. Bis zu dem Augenblick, da er die Worte aussprach, hatte er nicht gewusst, dass er das sagen würde.
Eileen fuhr hoch, als hätte sie mit offenen Augen geschlafen, und sah ihn an. Tiefe Linien zerfurchten die Haut rund um ihren Mund. »Das mit dieser Frau ist schrecklich«, sagte sie. »Wirklich schrecklich. Dieser arme kleine Junge. Aber es hat nichts mit dem Kampf gegen Khan zu tun.«
Sie nahm ihre Stickerei wieder auf, stickte mit erbarmungsloser Ruhe weiter.
Er legte die Fingerspitzen aneinander, stützte die Nase auf die zusammengelegten Fingerspitzen. »Ich habe das Gefühl, dass ich das alles ausgelöst habe«, sagte er.
»Mohammad Khan hat es ausgelöst«, kam es ganz ruhig und sachlich von ihr.
»Wahrscheinlich will ich einfach nicht derjenige sein, der es zu Ende bringt. Mehr sage ich gar nicht. Ich will den Garten nicht, aber ich will auch nicht mehr derjenige sein, der dagegen kämpft.«
»Und wer soll zu Ende bringen, was du nicht mehr machen willst, Sean? Nichts im Leben wird fallengelassen, ohne dass jemand anderes es aufheben muss.«
»Ich glaube, Claire Burwell fängt an, sich gegen Khan zu stellen«, sagte er. »Ich habe dazu beigetragen.« Er kam sich vor wie ein Heuchler, weil er Claire für ihre Schwäche verachtete und sie dann den Wölfen zum Fraß vorwarf, um seine eigene
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