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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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grauenhafte Verizon Building in der Pearl Street manchmal in ihm auslöste. Jetzt versuchte er, ihr Bild festzuhalten, ihren Wert, ihren Platz. Sie waren lebende Absagen an die Nostalgie gewesen, diese Goliaths, die kleine Geschäfte, lebendige Straßenlandschaften, seit Generationen bestehende Traditionen und andere romantische Vorstellungen unter ihren gigantischen Füßen zermalmt hatten. Und doch empfand er eine nostalgische Sehnsucht nach ihnen. Eine Skyline war ein, wenn auch unbeabsichtigtes, Gemeinschaftswerk der Generationen, für ihn nicht weniger natürlich als eine Gebirgskette, die aus der Erde hervorbarst. Die neu entstandene Lücke im Raum kehrte die Zeit um.

4
    C laire hechtete ins Wasser, legte die Arme an den Körper an, kickte, bis sie wieder an der Oberfläche war, fing an zu kraulen und öffnete die Augen hinter der Schwimmbrille. Zugleich öffneten sich ihre Sinne dem Kobaltblau der Kacheln, dem Licht, das auf dem Grund des Pools spielte, dem Chlorgeruch, ihrem eigenen stoßweisen Atem. Ihrem Alleinsein. Cal unterwegs zur Arbeit, William in der Vorschule, Penelope in ihrem Bettchen. Nach jeweils zwei Zügen kam sie hoch, horchte auf das Babyfon, das am Beckenrand stand, und tauchte wieder unter, sobald sie nur regelmäßige Atemzüge hörte.
    Ein Seelöwe in einem Aquarium, bei dem niemand stehen blieb, um ihn zu beobachten – das war sie. Sie hatte angenommen, dass sie weiterarbeiten würde, wenn sie Kinder hatte; Cal war vom Gegenteil ausgegangen. Im Nachhinein konnte sie nicht verstehen, dass sie vor ihrer Heirat nie darüber gesprochen hatten, vielleicht hätten sie gar nicht darüber sprechen können . In der Theorie gab niemand gern nach, aber in der Praxis – in einer Ehe, sofern sie funktionieren sollte – musste einer es tun.
    »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir ein Kindermädchen finden, das auch nur annähernd so intelligent ist wie du«, hatte Cal lächelnd gesagt, als sie das Thema im fünften Monat ihrer Schwangerschaft mit William anschnitt.
    »Ich bin doch nicht in Dartmouth und Harvard gewesen, um Kindermädchen zu werden.«
    »Und ich habe dich nicht geheiratet, damit unsere Kinder eine gute Anwältin haben, obwohl es sich natürlich als Vorteil erweisen könnte, wenn sie anfangen, sich in der Schule zu prügeln.« Er wurde wieder ernst. »Ich behaupte ja gar nicht, dass meine Einstellung richtig ist. Vielleicht bin ich einfach konservativer, als ich gedacht habe.«
    Zu sagen, dass sie die Unabhängigkeit brauchte, die ihr Gehalt als Anwältin ihr gab, hätte ihr als mangelndes Vertrauen in ihre Ehe ausgelegt werden können, aber das war es nicht. Sie hatte einfach nur Angst, egal von wem abhängig zu sein. Mit sechzehn hatte sie erlebt, wie ihr Vater starb und ihrer Mutter einen bis dahin ungeahnten Schuldenberg hinterließ. Claire hatte sich daraufhin noch härter ins Zeug gelegt denn je, war die Abschlussrednerin ihres Jahrgangs geworden, Mannschaftsführerin des Tennisteams, die Beste im Debattierclub. Sie hatte jeden Dollar zweimal umgedreht, sich um jedes Stipendium und jedes Darlehen beworben und es tatsächlich geschafft, in Dartmouth, einer der besten Schulen des Landes, angenommen zu werden. Cal zu heiraten, den Spross einer Familie, die ihr Vermögen in der Zeit der industriellen Revolution gemacht und seitdem quer durch alle Phasen der amerikanischen Wirtschaft immer weiter vermehrt hatte, hätte ihre Sorge, es nicht so weit zu bringen, wie sie es ihrer Meinung nach verdiente, eigentlich endgültig zerstreuen müssen. Aber das Geld gehörte ihm, nicht ihnen beiden. Die unausgesprochene Macht, die es ihm verlieh, hielt sie davon ab zu sagen: »Dann bleib du doch zu Hause.«
    Sie einigten sich darauf, Vorstellungsgespräche mit Kindermädchen zu führen. Cal hatte recht, sie waren tatsächlich nicht so intelligent wie sie selbst, so jedenfalls begründete sie ihre Entscheidung, doch zu Hause zu bleiben. Eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin fuhr Cal zum ersten Mal ohne sie in die Stadt. Wie die anderen Ehefrauen quälte sie sich im Schneckentempo durch den morgendlichen Verkehr und setzte Cal am Bahnhof von Chappaqua ab, und als sie den Wagen wendete, um nach Hause zurückzufahren, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, für sich selbst den Rückwärtsgang eingelegt zu haben.
    Vier Jahre waren seitdem vergangen, angefüllt mit Fußballtraining für Kleinkinder, Mittagessen mit anderen Müttern, Musikunterricht, Verabredungen zum

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