Der amerikanische Architekt
reißend, sagte er nichts. Er brachte es nicht fertig, von seiner Religionslosigkeit zu sprechen, aus welchem Grund, konnte er nicht sagen, genauso wenig wie er sagen konnte, wieso ihm plötzlich lange nicht geäußerte Worte in den Sinn kamen: La-ilaha-ill-allah, Muhammad rasulallah . Die Schahada, das Glaubensbekenntnis. Fast hätte er gelacht: Genau in dem Augenblick, in dem er seine muslimische Identität verleugnen wollte, hatte sein Unterbewusstsein ihre wichtigsten und bedeutsamsten Worte hervorgekramt.
Die »Befragung« endete so plötzlich und unerwartet, wie sie begonnen hatte. Ohne weitere Erklärung baten sie ihn, ihn fotografieren und ihm die Fingerabdrücke abnehmen zu dürfen. Statt sich zu weigern, was, wie er glaubte, sein Recht war, ließ er zu, dass sie seine Finger erst auf das Stempelkissen und anschließend auf das Formular drückten, als sei er nicht fähig, das selbst zu tun, eine Unterwürfigkeit, die den Mann, der das Zimmer verließ, von dem unterschied, der es betreten hatte. Bei der körperlichen Berührung des Agenten – die Hand, die seine anhob – flammte für einen Augenblick Wut in ihm auf, der Wunsch, um sich zu schlagen, den er allerdings sofort unterdrückte. Zu Hause angekommen stellte er fest, dass sie seinen Koffer geradezu verwüstet hatten: Seine exakt gefalteten Hemden waren zerknüllt, seine Sockenpaare auseinandergerissen, Shampoo und Zahnpasta waren aufgeschraubt worden, so dass eine weißliche Schmiere seine sämtlichen Toilettenartikel überzog. Er kippte den Koffer auf dem Bett aus, warf den Kulturbeutel in den Müll, trat den Mülleimer gegen die Wand.
Aber diese Verbitterung ging unter in der Trauer, die überall um ihn herum herrschte. Die Stadt war bis in die Grundfesten erschüttert – die Luft voller Staub, die Menschen aschfahl, der Ort des Anschlags eine schwärende Wunde, die man auch dann spürte, wenn man sie nicht sah. Eines Abends kurz nach seiner Rückkehr ging Mo zu Fuß zum Ort der Zerstörung. Das Mondlicht beleuchtete einen seltsamen feinen Staub, der Blätter und Äste überzog; sein Fuß trat auf einen Fetzen Papier mit angesengtem Rand. Die sonst rund um die Uhr beleuchteten Bürotürme in der Nähe waren dunkel, als seien die Lebensgeister der Stadt bezwungen worden. Ein Flickenteppich der Vermissten – Farbfotos von Männern in Abendanzügen, von perfekt geschminkten Frauen – überzog Zäune und Baustellenabsperrungen, aber die Straßen waren leer, und zum ersten Mal, soweit er sich erinnern konnte, hörte er in New York den Klang seiner eigenen Schritte.
Vor seinem inneren Auge – die Bilder drängten sich ihm mit Macht auf – sah er die zitternden Hände, die jedes einzelne dieser Fotos auf den Kopierer gelegt hatten, sah das darüber hinweggleitende blaue Licht, kalte, leblose Hoffnung. Trügerische Hoffnung. Hunderten und Aberhunderten von Netzwerken – Familien, Freunden, Arbeitskollegen – war der Mittelpunkt entrissen worden. Es zog Mo den Boden unter den Füßen weg, beschämte ihn. Jene Männer, die aus mörderischer Frömmelei gehandelt hatten, hatten nichts mit ihm zu tun, trotzdem waren sie nicht ganz und gar von ihm verschieden. Sie repräsentierten den Islam ebenso wenig wie seine eigene Familie, aber repräsentierten sie ihn weniger? Er wusste zu wenig über seine eigene Religion, um es sagen zu können. Er, der Sohn eines muslimischen, der oberen Mittelschicht angehörigen Ingenieurs, besaß ein Profil, das sich nicht allzu sehr von dem einiger der Terroristen unterschied. Hätte er, in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen, religiös erzogen, einer von ihnen werden können? Die Frage durchschauderte ihn und erfüllte ihn mit anhaltendem Unbehagen.
Hinter einer Polizeiabsperrung hielt ein Inder in schmuddeliger weißer Jacke und schwarzer Fliege ein Schild hoch: » WIR HABEN GEÖFFNET «. Der Mann deutete auf ein winziges Restaurant ein Stück weiter, und obwohl Mo keinen Hunger hatte, folgte er ihm und bestellte eine Kleinigkeit. Der Kellner überließ ihn dem Koch, der ihm das Essen brachte. Allein gelassen stocherte Mo in seinen Kichererbsen herum, knabberte sein Naan. Er konnte sich selbst kauen hören.
Was hatte er sehen wollen? Als die Türme noch standen, waren sie ihm völlig gleichgültig gewesen. Fließendere Formen waren ihm seit jeher lieber als ihre krasse Brutalität, ihr von sich selbst überzeugter Monumentalismus. Aber er hatte ihnen gegenüber nie die Aggressivität empfunden, die das
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