Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
Vom Netzwerk:
noch kinderlos. Oder dass sie es nicht mochte? Wenn man jemanden zu früh verlor, hatte man endlos Zeit, über Unwiederbringliches zu grübeln. Über Dinge, die ein für allemal vorbei waren.
    Die Aktenschränke neben Cals Schreibtisch enthielten penibel geführte Ordner: Kunst, Politik, Stiftungen, Reisen. Einen Claire-Ordner, bei dessen Anblick sie immer lächeln musste. Sie strich mit der Hand darüber, ohne zu wissen, wonach sie suchte. Die Kunstordner enthielten größtenteils detaillierte Dossiers über Werke, die Cal schon gekauft hatte oder noch kaufen wollte, oder über Künstler, die er bewunderte. In einem davon fand sie halb zu ihrer Belustigung einen Artikel über Ariana Montagus Tectonics , eine Arbeit von riesenhaften Ausmaßen – gigantische Granitplatten, die sich kreuz und quer gegeneinanderlehnten, als seien sie so hingefallen –, die vor mehreren Jahren im Central Park installiert worden war.
    Andere Ordner enthielten Informationen über Projekte, die Cal unterstützt hatte, und zwar manchmal geradezu erstaunlich großzügig: Umweltschutzgruppen, Menschenrechtsorganisationen, Demokraten, die die Partei reformieren wollten, ein Programm in Bridgeport, das Müttern im Teenageralter half, ihren Schulabschluss zu machen. Claire unterstützte es immer noch, fuhr allerdings längst nicht so oft hin, wie Cal es getan hatte. All das zeugte von einem guten, anständigen Mann, einem überzeugten Liberalen, einem Bürger, der versuchte, sein Land besser zurückzulassen, als er es vorgefunden hatte. Am anschaulichsten zeigten sich seine Prinzipien in einem Brief, den er im Alter von zwanzig Jahren an den Golfclub seiner Eltern und Großeltern geschrieben hatte, um seinen Austritt kundzutun. Er war durchdrungen von der liebenswert-aufreizenden Selbstgerechtigkeit eines Collegestudenten, der gerade erst anfängt, die Welt um sich herum wahrzunehmen, und glaubt, sie mit seinem neuentdeckten Idealismus von allen Übeln befreien zu können.
    »Mir ist zur Kenntnis gekommen«, fing der Brief an – Claire hatte ihn deswegen aufgezogen: War die Homogenität des Clubs ihm wirklich erst zu diesem Zeitpunkt zur Kenntnis gekommen ? –, »dass es kein einziges schwarzes oder jüdisches Clubmitglied gibt. Ungeachtet dessen, ob dies auf eine bewusste Ausschlusspolitik Ihrerseits zurückzuführen ist oder nicht, sehe ich mich außerstande, weiterhin einer Institution anzugehören, die keinen Wert auf Vielfalt legt.«
    Nach allem, was Claire wusste, war der Country Club immer noch so lilienweiß und so erz-angelsächsisch-protestantisch wie eh und je. Auch aus diesem Grund hielt Claire die Ordner inzwischen für eine Chronik des Scheiterns. Eigentlich hatte Cal Bildhauer werden wollen, hatte sich sogar nach dem College ein Studio eingerichtet. Aber als Claire ihn kennenlernte, studierte er bereits Betriebswirtschaft. Nachdem er eingesehen hatte, dass er nie ein großer oder auch nur ein guter Künstler sein würde, hatte er sich auf das Sammeln von Kunst verlegt, darauf, wenigstens zu besitzen, was er selbst nicht schaffen konnte. Aus allem Geld zu machen, das war die Begabung der Burwells, aber Cal wollte nicht, dass man ihn nur darüber definierte. Das politische Engagement, die gemeinnützige Arbeit – sie waren sein Versuch, Zeichen zu setzen, der Welt seinen Stempel aufzudrücken. Noch hatte er sein wahres Hauptinteresse nicht gefunden. Diesen unfertigen Fleck in einem Mann zu entdecken, der auf den ersten Blick so in sich gefestigt wirkte, hatte Claire, die immer noch damit beschäftigt war, an ihrem eigenen unfertigen Ich herumzubasteln, am Anfang verunsichert. Doch obwohl sie sich in Cals Stärke und in seinen Charme verliebt hatte, lernte sie mit der Zeit, seine Schwächen am meisten zu lieben, glaubte sie zumindest. So wie er ihre härtesten Seiten am meisten liebte – ihre Ernsthaftigkeit, die sie zugleich zuverlässig und anstrengend machte und der er mit dem unablässigen Bemühen begegnete, sie zum Lachen zu bringen. Die Dinge ein bisschen lockerer zu sehen.
    Claire zu heiraten war für ihn eine kleine Rebellion gewesen. Sicher, sie konnte sich sehen lassen, in jeder Hinsicht. Aber seine Familie hatte noch nie etwas von ihrer gehört, und sie war unverkennbar nicht vermögend. Sie blätterte im Claire-Ordner herum. Er enthielt Fotos (einige davon Nacktfotos, aus ihren Flitterwochen, sie suchte darauf nach körperlichen Veränderungen), ein paar mittelmäßige, an sie gerichtete Gedichte, Ideen für

Weitere Kostenlose Bücher