Der amerikanische Architekt
junger Mann oben herum, wo Plakatwände für Internetcafés warben und hässliche Bürogebäude aus blauem und grünem Glas überall emporschossen, alt, schlaff und verbraucht unten herum, wo in primitiven hölzernen Buden blutiges Fleisch zum Verkauf aushing und gebeugte, ausgemergelte Greise Handkarren zogen.
Im Zentrum waren Arbeiter mit dem Bau einer gigantischen Moschee beschäftigt. Die Gerüste rund um die Kuppel sahen aus wie ein struppiges Vogelnest. Ein hölzerner Steg zog sich von der Kuppel zum Minarett und wand sich in Form einer Treppe darum herum. Winzige Gestalten wuselten die Treppe hinauf und hinunter, und da es weit und breit weder Kräne noch sonstiges schweres mechanisches Gerät gab, konnte man sich vierhundert Jahre zurückversetzt fühlen.
Das Hotel InterContinental schien jüngeren Datums zu sein. Beim Einchecken empfand Mo es als bedrückend sowjetisch. In der zugigen Lobby wimmelten Turban- und Krawattenträger durcheinander, Westler und Afghanen, alle in trübes natürliches Licht getaucht, da der Strom, nicht zum ersten Mal an diesem Tag, ausgefallen war.
Auf seinem harten Bett schlief Mo sofort tief und fest ein. Vor Anbruch der Morgendämmerung weckte ihn der Ruf zum Gebet. Die Stimme des Muezzins erfüllte sein Zimmer, schwoll in seinem Inneren an. Allahu akbar . Gott ist groß. Die feierlichen Worte, der seltsam klagende Ton. Der Ruf tauchte in Täler ein, bevor er sich berghoch und höher als berghoch hinaufschwang. Er rankte sich ein unsichtbares Spalier hinauf, verästelte sich über Mo, hielt ihn reglos an Ort und Stelle fest, obwohl er ihn eigentlich zum Aufstehen bewegen wollte. Sinnlich hallend, kletterte die Stimme bis zu einem Punkt, an dem sie zu brechen und zu kippen drohte und gewann dann wieder Festigkeit. Sie klang einsam. Sie klang meisterlich. In der Dunkelheit standen Männer auf, wuschen sich, knieten zum Gebet nieder. Mo folgte ihnen in Gedanken, bevor er wieder einschlief.
Um in die amerikanische Botschaft zu gelangen, musste Mo sich dreimal abtasten lassen, viermal seine Papiere vorzeigen und ewig warten, bevor er endlich durchgelassen wurde. Auf der dem Hauptgebäude gegenüberliegenden Straßenseite schimmerten Reihen weißer Wohnwagen – die Unterkünfte der Botschaftsangestellten – in der Sonne wie Badezimmerkacheln. Der Beamte, der die Architekten der zwölf Firmen, die sich um den Auftrag beworben hatten, in Empfang genommen hatte, erklärte ihnen, die neue Botschaft würde das derzeitige Gebäude geradezu winzig aussehen lassen. Sie würde beide Seiten der Straße einnehmen, die von da an für alle Zeit für »Außenstehende«, wie die Afghanen bezeichnet wurden, gesperrt sein würde.
Ehe Mo aus New York abgereist war, hatte Roi von Paris aus per Freisprecher über die glorreichen Zeiten der Botschaftsarchitektur schwadroniert, als große Modernisten – Saarinen, Gropius, Breuer (alles Immigranten, wie Mo für sich vermerkte) – damit beauftragt wurden, Gebäude zu entwerfen, die amerikanische Werte wie Demokratie und Offenheit zum Ausdruck bringen sollten. Diese Zeiten waren lange vorbei, obwohl immer noch Spitzenarchitekten aufgefordert wurden, sich um die Aufträge zu bewerben. Das Einzige, was heutzutage zählte, war Sicherheit, die Gewährleistung, dass die Botschaft nicht in die Luft gejagt werden konnte. Diplomatie würde sich fortan hinter drei Meter hohen, bombensicheren Schutzmauern abspielen. Die Architektur, einst selbst ein Botschafter, war nur noch ein schwer bewaffneter Wachmann, der sich jedem, der sich zu nahe heranwagte, drohend entgegenstellte.
An die Stelle gläserner Wände und plastischer Formen – den Manifestationen, oder Narrheiten, einer unschuldigeren Zeit – war die Standard-Botschaft getreten: ein Bauen-nach-Zahlen-Klotz, der in klein, mittel und groß zu haben war. Festungen zum Schnäppchenpreis. Kaum das, womit ROI berühmt geworden war, aber Mo wusste, dass er nicht wegen der künstlerischen Herausforderung hier war. Insgesamt mehr als hundert Botschaften und Konsulate auf der ganzen Welt sollten ersetzt werden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Selbst ein kleiner Anteil an diesen Aufträgen wäre für ROI lukrativ.
Aber Mo wurde sehr schnell klar, dass seine Firma keine Chance hatte, den Botschaftsauftrag zu ergattern. ROI s Markenzeichen waren extrem unsichere, für ihre Transparenz bekannte Gebäude (»nichts verstecken, alles offenlegen«), während sich die Rivalen auf schnelles, effektives,
Weitere Kostenlose Bücher