Der amerikanische Architekt
Vereinigten Staaten die Quote für asiatische Einwanderer erhöht hatten, eine Entscheidung, die fast vier Jahrzehnte später dazu führte, dass ein indischstämmiger Amerikaner, allerdings ein Hindu, die Leitung von Pauls alter Investmentbank übernahm. Laut Bericht war Khans Vater leitender Ingenieur bei Verizon, seine Mutter Künstlerin, die an einem Community College unterrichtete. 1973 hatten sie ihr Haus gekauft, auf dem noch eine Hypothek von 60.000 Dollar lastete. Khan selbst besaß kein Wohneigentum und lebte in Chinatown, was Paul, der Uptowner, ziemlich seltsam fand. Ein Inder in Chinatown? Jedenfalls war Khan nicht vorbestraft, hatte keine Gerichtsverfahren anhängig und keine Steuerschulden.
Auf der Webseite einer Moschee in Arlington, Virginia, waren zwei Spenden von Khans Vater, Salman Khan, aufgelistet, beide aus der Zeit nach den Anschlägen. Diese Tatsache, zusammen mit Nachfragen in der Moschee und bei Nachbarn und Kollegen, hatte die Bestätigung erbracht, dass die Khans tatsächlich Muslime waren.
Die Moschee, die 1970 eröffnet worden und 1995 in das derzeitige Gebäude umgezogen war, besaß, soweit bekannt, keine »radikalen Verbindungen«, obwohl der Cousin des Sohns eines früheren Vorstandsmitglieds dieselbe Schule in Virginia besucht hatte wie einige Jugendliche, die seit Kurzem unter der Anklage standen, sich durch Kämpfe mit Farbgeschosswaffen auf terroristische Anschläge vorbereitet zu haben. »Ich habe sie manchmal auf dem Parkplatz rumhängen sehen«, hatte dieser Cousin der Washington Post gesagt. Khans Bekanntschaftsbeziehung zu ihnen ging also nicht um drei, sondern um dreizehn Ecken herum.
Im Auftrag von ROI war Khan vor einiger Zeit in Afghanistan gewesen, besaß aber, soweit bekannt oder nachweisbar, keine Verbindungen zu irgendwelchen Organisationen, die auf der Terrorverdachtsliste der Regierung standen. Es gab keine Spenden an politische Randgruppen, übrigens auch keine an etablierte Parteien. Anscheinend war er nur Mitglied im Verband amerikanischer Architekten. Nichts wies auf extremistische Tendenzen hin. Im Gegenteil: er wirkte wie der Prototyp des typischen Durchschnittsamerikaners, sogar was seine beruflichen Ambitionen anging.
Paul holte seinen linierten Notizblock hervor, seine bevorzugte Argumentationshilfe, legte ihn vor sich auf den Schreibtisch, zog einen Strich von oben nach unten und überschrieb die beiden Spalten mit »für Khan« und »gegen Khan«. Im Leben gab es nur selten, falls überhaupt, »richtige« Entscheidungen, niemals perfekte, nur unter den gegebenen Umständen bestmögliche. Alles lief darauf hinaus, die absehbaren Folgen jeder Entscheidung abzuwägen und zu versuchen, die unabsehbaren trotzdem vorherzusehen – jene ganz und gar abwegigen Eventualitäten.
Zugunsten Khans listete er auf:
Prinzip – er hat nun mal gewonnen!
Toleranzbeweis
sehr ansprechender Entwurf
Juroren – Widerstand: Claire
Reporterin weiß Bescheid – Story bestätigt?
Von diesem letzten Eintrag zog er einen Strich zur »Gegen«-Spalte und notierte Fred , was die Reporterin neutralisierte. Paul war dankbar für die bei Zeitungen herrschenden Hierarchien, obwohl er wusste, dass sie zunehmend der Demokratie oder vielmehr der Anarchie von Blogs und Internet weichen mussten. Aber noch waren Reporter ihren Chefredakteuren unterstellt, die, auch was ihre Jobs betraf, das Sagen hatten.
Aber obwohl er das Leck für den Moment gestopft hatte, konnte sich jederzeit ein weiteres auftun, eine Gefahr, die schnelles und entschiedenes Handeln erforderte. Mit Nachdenken allein würde er nicht weiterkommen. In die »Gegen«-Spalte schrieb er mit energischer Hand:
Gegenreaktion
Ablenkung
Opferfamilien gespalten
Fundraising schwerer
Gouverneurin B./politisches Umfeld
Es war mehr als unwahrscheinlich, dass sich die Gouverneurin mit ihren mal in diese, mal in jene Richtung pendelnden nationalen Ambitionen zu diesem Zeitpunkt für einen Muslim starkmachen würde.
Er schrieb weiter. Gegenüber Toleranzbeweis notierte er:
Zeichen von Nachgiebigkeit/Schwäche
Und unter beide Spalten kritzelte er unter die Überschrift Unabsehbar :
GEWALTTÄTIGE AUSEINANDERSETZUNGEN
Dann überflog er noch einmal, was er geschrieben hatte. Die Punkte für Khan wirkten nicht nur ihrer Zahl nach spärlich. Fast war es, als hätte er die »Für«-Spalte mit blasserer Tinte geschrieben. Vielleicht hätte Prinzip – er hat nun mal gewonnen! die Argumentation im Keim ersticken müssen,
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