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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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Schwimmwesten steckten, fertig fürs Anlegen, eine Stunde auf dem Bett saßen und darauf warteten, das Boot verlassen zu können.
    Eines Abends, als Asma sich durch die Fernsehkanäle zappte, blieb sie bei einer Reportage über eine Bootsfahrt für die Angehörigen der Toten hängen. Die Gesichter der Frauen – und es waren größtenteils Frauen – waren ihr vertraut, und zwar nicht nur, weil sie einige von ihnen schon früher in den Nachrichten gesehen hatte, wie sie Interviews gaben, Pressekonferenzen abhielten, an Beerdigungen teilnahmen. Nein, ihre Gesichter hatten einen ganz bestimmten Ausdruck – leer und wachsam, überängstlich besorgt um ihre Kinder, ohne wirklich voll und ganz präsent zu sein –, den sie manchmal auch auf ihrem eigenen Gesicht wahrnahm.
    Auch die Circle Line kannte sie, weil die Bootstour zu den sehr wenigen Extravaganzen gehörte, die sie und Inam sich in ihren beiden gemeinsamen Jahren geleistet hatten. Sie erinnerte sich noch an den Preis für die Tickets – vierundzwanzig Dollar pro Person –, also jeweils sechzehn Dollar die Stunde, sieben Dollar mehr, als Inam die Stunde verdiente. Sie erinnerte sich auch an ihre Einwände, denn von Mrs Ahmed hatte sie gehört, dass die Staten Island Ferry kostenlos war, und man konnte dasselbe Wasser sehen, dieselbe Stadt, dieselbe Statue. Aber Inam hatte darauf bestanden, und er bestand nur so selten auf etwas, also hatte sie nachgegeben.
    Sechs Monate nach ihrer Ankunft in Amerika, an einem Samstag, Inams einzigen freien Tag, hatten sie die Tour gemacht. Die anderen Passagiere – Amerikaner, Schweden, Japaner und Italiener – hatten trotz der Vormittagsstunde alkoholische Getränke zu sich genommen, und einige hatten an der Reling gestanden und sich geküsst. Sie und Inam hatten nichts getrunken, hatten sich nicht geküsst. Sie hatten sich an den Händen gehalten und auf das Wasser hinausgesehen und die Stadt betrachtet, als könnten sie sie aus dieser Entfernung endlich verstehen. Sie spazierten an den orangefarbenen Schwimmwesten und den Rettungsbooten vorbei, die für den Fall einer Katastrophe bereitstanden. Jeder von ihnen dachte dabei an die Fähren zu Hause und wusste, dass der andere es ebenfalls tat: Bangladesch war ein Land der Flüsse, die ständig auf riskante Weise auf völlig maroden, völlig überfüllten Booten überquert wurden, die entweder kenterten oder einfach untergingen oder Zusammenstöße hatten und ihre Passagiere so ins Wasser schleuderten, wie die Passagiere hier ihre Plastikbecher.
    Vom Boot aus gesehen war Manhattan geräuschlos, wie ein Fernseher mit abgedrehtem Ton, aber um sie herum peitschte der Wind das Wasser gegen das Boot, und die Touristen lachten und kreischten, und die Schreie der weißen Möwen sanken auf sie herab wie Federn. Der freche Wind hatte den Zipfel ihres Kopftuchs angehoben, als wolle er es ihr abreißen, und Inam hatte ihn wieder nach unten gezerrt und so getan, als verteidige er ihre Ehre gegen den Wind.
    Mit einer Wegwerfkamera machte er ein Foto von ihr und bat einen Schweden, sie beide gemeinsam zu fotografieren, und dann fragte ein Japaner, ob Inam ihn und seine Frau fotografieren würde, und auf diese Weise wurden sie Teil von allem. New Yorker. An jenem Tag kannten sie keine Sorgen. Geld und Arbeit, Sprachschwierigkeiten und Familie, all das war in diesen kurzen Stunden so bedeutungslos wie ein Eimer Wasser, den man in den Hafen kippt.
    Im Fernsehen lächelten die Witwen verkrampft, wenn die Reporter mit ihren Mikrofonen auf sie einstachen wie Ärzte, die einen Krankheitsherd sondieren wollen. Dann war die blonde Witwe aus der Jury zu sehen, ihren weinenden Sohn auf dem Schoß. Mechanisch löffelte Asma mehr Reispudding in Abduls Schale, den Blick auf die Fernsehkinder gerichtet, deren Gesichter und geschenkte Werbe-T-Shirts mit Ketchup verschmiert waren. Ihr Lächeln war, anders als das ihrer Mütter, strahlend und echt. Sie fühlte, dass Abdul sie beobachtete. Er spürte es immer, wenn Kummer oder Zorn oder Neid sie an einen anderen Ort führten, und er holte sie jedes Mal mit seinen betelnussbraunen Augen zurück, die alles wieder ins rechte Licht rückten. Er wusste nicht, dass er keinen Vater hatte, hatte nicht erwartet, einen vorzufinden, als er auf die Welt kam. Er erwartete gar nichts, nicht einmal eine kostenlose Fahrt auf einem Boot der Circle Line. Vielleicht war das das Geheimnis inneren Friedens: nichts zu erwarten, es sei denn, es wurde einem gegeben.
    Am

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