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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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nächsten Morgen wurde sie von einem Streit ihrer Nachbarn geweckt. Asma hatte gedacht, amerikanische Gebäude wären solider gebaut, ihre Wände dicker, aber es war genau wie zu Hause. Zu wissen, wissen zu müssen , was in einem Leben vorging, das weder das eigene noch das der eigenen Familie war, so dass es manchmal schwer war zu erkennen, wo die eigenen Gedanken aufhörten und die von anderen anfingen. Die Nachbarn von nebenan, Hasina und Kabir, ebenfalls aus Bangladesch, waren vor sechs Monaten eingezogen. Sie waren beide um die dreißig und kinderlos, was Asma nicht überraschte. Sie hörte von nebenan nie Geräusche der Liebe, nur Geräusche des Zorns. Und aus Streit, das sagte ihr ihre zugegebenermaßen begrenzte Erfahrung, entstanden keine Babys.
    Hasina lebte in strengster Parda und verließ das Haus nie ohne ihren Mann. Manchmal bat sie Asma, ihr etwas vom Markt mitzubringen, irgendeine Zutat, die sie zum Kochen brauchte, oder Hygienebinden, einmal sogar Unterwäsche, wozu sie Asma ihre Größe verraten musste. Gelegentlich luden Asma und Mrs Mahmoud sie zum Tee ein, aber ihr Mann missbilligte es, dass Asma allein mit ihrem Sohn in Amerika geblieben war, statt nach Hause zu ihrer Familie zurückzukehren. Das hatte Hasina ihr erzählt, aber Asma hätte es auch so gewusst, weil Kabir ihr im Flur nie in die Augen sah und im Höchstfall ein barsches »As-salamu alaikum« murmelte, um sich nicht der Unhöflichkeit schuldig zu machen. Die beiden gehörten natürlich zu Mrs Mahmouds Lieblingsthemen, aber Asma war es inzwischen ebenso leid, über ihre Nachbarn zu reden, wie sie es leid war, sie streiten zu hören. Zweimal hatte sie sogar gehört, wie Kabir seine Frau schlug, zumindest hatte sie das aus dem lauten Aufschrei und dem unterdrückten Schluchzen geschlossen, das darauf folgte. Aber alle taten so, als wüssten sie von nichts, als gäbe es die Streitigkeiten nicht. Und als sie nach Hasina sehen wollte, hatte Kabir durch die geschlossene Tür zu ihr gesagt, seine Frau sei »beschäftigt«.
    Ihre Streitereien waren wie ein Radio, das Asma nicht leiser stellen konnte, was sie auf die Idee brachte, ihr eigenes anzustellen. Sie schaltete auf BBC und drehte die Lautstärke hoch, um die Geräusche von nebenan zu übertönen, anscheinend so laut, dass sie das Klingeln des Telefons nicht hörte. Erst als Mrs Mahmoud ihren Namen rief, kam sie aus ihrem Zimmer und musste erfahren, dass ihr Vater gestorben war.
    Er war zwei Wochen lang krank gewesen – Wasser in der Lunge, sagten die Ärzte, als habe er das Flussdelta in sich aufgenommen. Seine Stimme am Telefon, an den Tagen, an denen er sprechen konnte, war erfüllt von einem schrecklichen Rasseln und Röcheln, leise und kraftlos, nicht zu vergleichen mit dem faszinierenden Singsang, an den sie sich erinnerte. Ihre Mutter flehte sie an, nach Hause zu kommen, und im Geist packte Asma ihre Koffer und packte sie wieder aus, packte sie manchmal auch wirklich. Wenn sie nicht nach Hause flog, würde Abdul seinen Großvater nie kennenlernen, so wie er seinen Vater nie gekannt hatte – würde nicht wissen, dass ein Vater oder ein Großvater etwas anderes sein konnten als ein Foto, dessen glatte Oberfläche man mit den Fingern streicheln konnte. Aber wenn sie Amerika verließ, würde sie vielleicht niemals zurückkommen können. Wieso das für sie so wichtig war, war ihrer Mutter ein Rätsel. Für sie war New York so unerreichbar, so unvorstellbar, so überflüssig wie die Sterne, die zwar ein Beweis für Gottes Größe waren, aber abgesehen davon kaum einen praktischen Nutzen hatten.
    Asma hatte auch Angst davor, ihren Vater so geschwächt zu sehen, da sie ihre eigene Kraft und Hartnäckigkeit aus seiner schöpfte. Wenn sie hörte, wie er immer leiser und schwächer wurde, spürte sie ihre eigene Kraft schwinden. So viel von dem, was sie war, kam von ihm – und hielt sie nun von ihm fern. Sich an Amerika zu klammern, an die Möglichkeiten, die es ihr verlockend vor die Nase hielt, war wie ihr eigener kleiner Befreiungskrieg, wenn auch ein einsamer.
    Insgeheim hegte sie die Vorstellung, dass sie in Amerika vielleicht noch einmal heiraten könnte. Nicht jetzt, nicht bald, nicht für lange, lange Zeit, nicht solange ihre Trauer um Inam so tief war. Aber eines Tages sollte ihr Sohn nicht nur einen Vater aus Papier haben. Wenn sie nach Bangladesch zurückkehrte und dort ein zweites Mal heiratete, würde sie Abdul bei Inams Familie lassen müssen, und das würde sie nie

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