Der amerikanische Investor (German Edition)
er wieder den Kopf gehoben, und weil zur Straße hin in ihrer Wohnung kein Licht brannte, hatte er leise die schwere Tür zum Hof aufgedrückt. Auch in den hinteren, zum Hof hin gelegenen Räumen der Wohnung der fast hundert Jahre alten Frau hatte kein Licht gebrannt. Das ganze Gebäude war auf dieser Seite dunkel gewesen. Nur die helle Wand, die den Hof an der Stirnseite eng abschloss, hatte mild zu ihm hingeleuchtet. Zuerst aber war ihm nur die Stille aufgefallen. So still war es auf diesem Hof, als sei er, einmal errichtet, nie wieder berührt worden, eine märchenhaft vergessene Welt, die ihrer Erweckung harrte. Wie ergraute Hochzeitskleider hingen die Gardinen vor den Fenstern der Wohnung der fast hundert Jahre alten Frau. Hinter dem einen Fenster musste sich die Küche verbergen, dann konnte hinter dem anderen Fenster nur das halbe Zimmer liegen, ein Zimmer, als sei es eigens für ihn erdacht, mit einem Blick auf diese sanfte Wand, zu der es ihn jetzt plötzlich, indem er sich zu ihr umwandte, mit ausgebreiteten Armen hingezogen hatte, weil ihm etwas Heilendes von ihr entgegenströmte, als würden sich die Ängste der vergangenen Wochen und Monate gerade verflüchtigen. Das war seine Wand, und während er sich ihr nun Schritt für Schritt näherte, war ihm schon, als würde er sich aus dem halben Zimmer heraus dabei beobachten. Diese Wand würde er besingen. Mit ihr würde er sich vermählen. Tag und Nacht würde er mit schlafwandlerischem Blick zu ihr hinsehen und die Wand würde all seine Träume auffangen, um sie zu ihm zurückzuwerfen. Vor der Wand war er dann auf die Knie gesunken.
Wieder strich er sich über die feuchte Stirn. Was hätte seine Frau wohl gedacht, wenn sie ihn dort gesehen hätte? Vielleicht hätte sie ihn für verrückt gehalten, vielleicht hätte sie ihn aber auch zum ersten Mal seit langer Zeit wieder verstanden, seine Not und seine Kraft. Nichts hätte er sich doch sehnlicher gewünscht, als dass seine Frau gestern in dieser Sekunde seine Hand ergriffen und sich neben ihn gekniet hätte.
Noch einmal fuhr er sich über die Stirn, und da er jetzt zu dem wolkenlosen Himmel hinaufsah, spürte er wieder den rauen Putz auf seinen Lippen und in seinem Kopf schwindelte erneut die Benommenheit, die ihn auch gestern erfasst hatte, nachdem sich seine Lippen wieder von der Wand gelöst hatten, eine herrliche Benommenheit, während derer er gewiss war, dass es nur eine Fügung gewesen sein konnte, die ihn auf den Hof verschlagen hatte, und dass die fast hundert Jahre alte Frau ein Teil dieser Fügung war, dass sie schon seit Jahren hinter ihrer ergrauten Gardine auf ihn wartete und nun endlich mit einem schwachen, aber beruhigten Lächeln im schmalen, runzligen Gesicht die Augen schließen konnte. Zurück auf der Straße, war ihm noch immer ganz taumelig gewesen, und nur weil ein leichter Windstoß ihn erfasste, hatte er wieder zu sich zurückgefunden. »Die Winde«, hatte er noch geflüstert, kurz die Hände über seinem Kopf verschränkt und dann war er, mit freudig entrücktem Gesicht, die Treppen zu seiner Wohnung hinaufgeeilt. Seine Frau hatte mit ihrer Freundin noch am Wohnzimmertisch gesessen und etwas gequält zu ihm aufgeblickt. Trotzdem und auch, weil er gedacht hatte, dass dies schließlich auch seine Wohnung sei, hatte er sich zu ihnen gesetzt. Vom Tisch hatte er sich ein Wasserglas der Kinder genommen, den kleinen Restschluck, der schal am Boden schwamm, geleert und dann den Rest der Weinflasche in das Glas geschenkt. Den ersten Schluck musste er deshalb vorsichtig vom Rand abtrinken. Er hatte dann aber auch gleich angeboten, eine neue Flasche zu holen. »Meinetwegen nicht«, hatte die Freundin seiner Frau gesagt und dankend mit der Hand abgewinkt, »ich muss sowieso gleich gehen.« »Ach Quatsch!«, hatte er gerufen und war in die Küche geeilt. Als er jedoch mit der entkorkten Flasche zurückkam, hatte sich die Freundin bereits erhoben und es überraschte auch ihn, wie fest er sie zum Abschied an sich drückte. »Aber du trinkst doch noch einen Schluck mit mir?«, hatte er seine Frau gefragt, als sie vom Flur wieder ins Wohnzimmer getreten war. »Aber nur ein Glas«, hatte sie geantwortet, und dann saßen sie sich gegenüber.
Er sah zum Hund hinunter. In seinem Sinn war es nicht gewesen, dass sie sich wieder gestritten hatten. Vielleicht hatte er das Gespräch aber doch zu übermütig begonnen. Dabei hatte er seiner Frau eigentlich nur erzählt, was der vorherige Hausmeister ihm
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