Der andere Tod
Male im Krankenhaus über den Weg gelaufen.
Bei einer dieser Gelegenheiten hatte Hella mir wie eine giftige Schlange entgegengezischt: »Das wirst du büßen,Max Winther. Ich werde dich hinter Gitter bringen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
Inzwischen war Anouk von der Intensivstation auf ein »normales« Krankenzimmer verlegt worden. Noch immer hing sie am Tropf und wurde künstlich ernährt. Meine Zuversicht, dass sie je wieder aufwachen würde, war auf ein absolutes Minimum geschrumpft.
Ich hatte mir angewöhnt, an Anouks Bett zu sitzen, ein paar Stunden am Morgen und ein paar Stunden vom späten Nachmittag bis in die Nacht hinein. Wenn Svedbergs kamen, verließ ich das Zimmer. Dann fuhr ich entweder ins Büro oder in die Stadt. Ab und zu kaufte ich einen Blumenstrauß für Anouk: rosa und orangefarbene Ranunkeln oder Nelken. Rosen kaufte ich nie, denn ich wusste, dass sie Rosen ohne Duft nicht mochte.
Oft las ich ihr etwas aus einem Gedichtband vor, manchmal auch aus Thoreaus Werken. Oder ich setzte ihr behutsam unseren gepolsterten Kopfhörer von zu Hause auf und ließ sie über meinen MP 3-Player leise, ganz leise, Satie hören. Ihr Gesicht schien sich dabei um ein paar Nuancen mehr zu entspannen.
Es war ein lauer Sommerabend. Ich hatte Anouk eben ein paar Kaschnitz-Gedichte vorgelesen, doch bald wieder damit aufgehört. Die Texte hatten mich allzu traurig gestimmt. Ich schob das Büchlein zurück in meinen Rucksack. Da ich ihn schon mal offen hatte, suchte ich auch gleich nach einer Packung Kaugummis. Ich kramte ein wenig herum, fand eine angebrochene Tafel Schokolade, eine Packung Tempotaschentücher und eine Wanderkarte vom Bregenzer Wald, die ich an dem Tag eingesteckt hatte, als Barbara sich mit mir in Eichenberg treffen wollte.
Und plötzlich hielt ich ein anderes Buch in der Hand. Eswar das in graues Leinen gebundene Bändchen aus Lewinskys Wohnung. Ich hatte es die ganze Zeit über vergessen. Auch jetzt schien es mir wertlos. Eigentlich wollte ich es sofort wieder in den Untiefen des Rucksacks verschwinden lassen. Dann überlegte ich es mir anders, schlug es auf und begann, gelangweilt darin zu blättern.
Es war offensichtlich ein Propagandawerk der DDR, daran gab es keinen Zweifel, verlegt vom VEB Verlag für Bauwesen Berlin im Jahre 1966. Mit Hilfe von zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen wurde ein Loblied auf die realsozialistische Gesellschaft gesungen. Auf die Gerechtigkeit, die allen widerfahren sollte, auf die Errungenschaften, die Bauwerke der neuen Ära. Es war ein unscheinbares und unspektakuläres Buch, das – aus der Distanz der Geschichte heraus – voller Lügen steckte.
Während ich die phantasielosen Abbildungen von Maschinen und Anlagen betrachtete, fragte ich mich, was Lewinsky bewogen haben mochte, ausgerechnet dieses Œuvre über die realsozialistische Wirklichkeit auf seinem Nachttisch liegen zu haben. Ich blätterte noch einmal zurück, da sah ich, dass auf der dritten Seite eine Widmung stand:
Meinem lieben Jungen. Damit du uns nicht ganz vergisst. Mama.
Die Handschrift war schwungvoll, ohne überflüssige Schnörkel und gut lesbar. Eine Weile lang ruhte mein Blick auf dem Schriftzug. Dann begann ich, das Buch noch einmal, aufmerksamer diesmal, durchzublättern.
Ich schüttelte den Kopf über die linientreuen Bildunterschriften, über die jungen und gescheitelten Genossen, die wie frisch aus dem Waschzuber gestiegen und mit Kernseife abgeschrubbt wirkten, über die Fabriken, die trostloser nicht hätten sein können.
Mit einem Seufzer klappte ich das Buch zu und wollte es nun wirklich zurück in den Rucksack stecken. Aber unwillkürlich musste ich stutzen.
Was hatte sich da auf meine Netzhaut gelegt? Was war das gewesen, auf einem dieser Uralt-Bilder?
Mit fahrigen Bewegungen fuhr ich durch die Seiten. Ich glaubte, etwas wiedererkannt zu haben. Das Rascheln des Papiers kam mir mit einem Mal unnatürlich laut vor. Und hier war sie, die Seite mit
dem Foto
: Das war die Plattenbaulandschaft meiner Träume, die öde, baumlose Siedlung mit dem Sandkasten.
»Moderne Wohnungen für Angehörige des VEB Schwermaschinenbau Karl Liebknecht Magdeburg«, lautete die Bildunterschrift.
Ich spürte, wie mein Herz zu rasen begann, wie der Schweiß aus allen Poren drang. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf das Foto. Dieses Haus kannte ich! Hundertprozentig. In all seiner Hässlichkeit.
Eigenartig, dass ich ausgerechnet in einem Buch von Lewinsky
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