Der Andere
peinliches Geheimnis, war mir sympathisch. Ich wünschte, es würde so lange weitergehen, wie sie es zuließ.
»Wenn du das geplant hast, wenn du gewusst hast, was die Vernichtung des Buches bei ihr anrichtet …«
Ich fühlte mich geschmeichelt – es wäre eine ausgezeichnete Idee gewesen –, aber natürlich hatte ich keine Ahnung, und das sagte ich ihm auch.
»Ich kann sie nicht die ganze Zeit da drin einfach so liegen lassen.«
»Möglich«, stimmte ich widerwillig zu. »Aber es sind doch erst zwei Tage. Kein Grund zur Panik.«
Aber aus zwei Tagen wurden rasch vier, und Claire wollte ihr Zimmer nicht verlassen, egal wie oft Luke sie anbettelte. »Weil ich müde bin«, war der einzige Grund, den sie nannte. Nachdem sie diese vier zweifellos unstrittigen Worte erneut wiederholt hatte, giftete Luke schließlich zurück: »Du hörst dich an wie eine Zweijährige. Tu doch wenigstens eine Minute lang so, als wärst du erwachsen.«
Sie stützte sich auf dem Ellbogen auf und sah ihren Sohn an. »Niemand zwingt dich, hierzubleiben. Möchtest du vielleicht eine Weile wieder zu James? Warum rufst du ihn nicht mal an und sprichst mit ihm?«
»Das ist nicht fair.«
»Nein, ist es nicht. Aber es ist auch nicht fair, wie du mich behandelst. Ich will nur meine Ruhe, sonst nichts. Ist das zu viel verlangt?«
Ich zupfte an Lukes Ärmel. »Komm, wir gehen.«
Er schüttelte mich ab. »Das habe ich nicht verdient. Ich tue alles, was du möchtest.«
Claire drehte sich um und kehrte uns den Rücken zu. Ihre Stimme wurde leiser, entfernte sich. »Ja, und jetzt möchte ich meine Ruhe. Kannst du das bitte tun?«
Luke verharrte einen Augenblick und meinte dann: »Ich kann verstehen, warum James dich verlassen hat. Bisher nicht, aber jetzt verstehe ich es.«
Claires Stimme verfolgte uns, als wir den Raum verließen: »Vergiss nicht, dass er auch dich verlassen hat.«
Luke schnappte sich seine Kamera, eine arg mitgenommene, tonnenschwere Pentax, die einmal Venetia gehört hatte, und schlich sich aus dem Apartment. Fotografieren war inzwischen seine Leidenschaft geworden, nachdem er im vergangenen Frühjahr nach einer Serie von Gehirnerschütterungen beschlossen hatte, nicht mehr Football zu spielen. Die Dunkelkammer in der Highschool war als bevorzugter Rückzugsraum an die Stelle der Van-Cortlandt-Plätze getreten. Wir gingen die Central Park West hinaus, dann Richtung Osten in den Nordteil des Parks. Luke blieb stehen und machte Fotos von den Ulmen, ihren knotigen, muskulösen Wurzeln, die sich durch das Kopfsteinpflaster an die Oberfläche arbeiteten. Das Licht des späten Nachmittags wurde schwächer, als wir in die Lenox Avenue einbogen. Er fotografierte die Backsteinfassaden über 99 -Cent-Shops und Feinkostläden auf der einen Straßenseite und wandte sich dann den Gebäudekomplexen und Streetballfeldern auf der anderen Seite zu. Er fotografierte Notausgänge, Parkuhren, einen vorüberfahrenden Bus. Ich wusste, dass er gern auch die Menschen fotografiert hätte, denen wir begegneten – eine ältere Dame in einem quietschrosa Pillbox-Hütchen, zwei Straßenbauarbeiter, die gerade Pause machten und über einem offenen Kanalschacht ihre Brote aßen –, aber er wollte niemanden vor den Kopf stoßen. Ich verhielt mich ruhig. Er brauchte mich nicht, um die Grausamkeit seiner Mutter zu erkennen, meine stillschweigende Anwesenheit an seiner Seite war ein ausreichender Kontrast.
Ein paar Straßenzüge weiter nördlich des Parks endeten die Gebäude, und ein Maschendrahtzaun trennte ein freies Grundstück vom Gehweg. Das Gelände war von Müll übersät, nur ein schmaler Pfad führte am Zaun entlang. Luke blieb stehen, um die Linse auf den verwahrlosten Ort zu richten. Gerade hatte er ein Foto gemacht, als das Vieh plötzlich hinter einem Haufen Bruchbeton hervorgeschossen kam und sich mit der ganzen Wucht seines Körpers in den biegsamen Metallzaun warf. Luke machte einen Satz nach hinten und ließ dabei fast die Kamera fallen. Dann richtete er die Linse auf das rasende Tier. Der Rottweiler erhob sich auf die Hinterläufe, drückte die Vorderpfoten gegen den Zaun und rammte seinen Kiefer in die rautenförmigen Maschen. Der Hund trug ein metallbeschlagenes Lederhalsband, aber niemand schien für ihn zuständig zu sein. Das Gebell übertönte den Straßenlärm und machte auf unseren kleinen Auftritt aufmerksam.
»Wir sollten jetzt besser gehen«, riet ich.
»Ja, gleich.« Lukes Linse eilte den Bewegungen des Hundes
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