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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Punk aus dem East Village, dessen Eltern linke Professoren an der New York University waren und aus dem Libanon und Frankreich stammten. Der Omar, an den ich mich erinnerte, war schüchtern und zuvorkommend gewesen, vernarrt in Origami und Kampfsport. Aber mit Beginn der letzten Klasse hatte seine Persönlichkeit an Größe gewonnen, die er auswarf wie ein alles verschlingendes, lachendes Netz. Seine Stimme und sein Körper mauserten sich zu gewaltigen, raumeinnehmenden Gebilden. Er hing jetzt mit den Kids aus den öffentlichen Schulen in seinem Viertel herum. Skateboarder und Graffiti-Künstler. Luke hatte er eigentlich nur noch als Andenken an das fragwürdige Leben in seiner Vergangenheit um sich.
    Wie alte Freunde waren beide zufrieden mit einer gemeinsam verbrachten Vergangenheit, aber wenig gemeinsamer Zukunft. Ich beugte mich von meinem Aussichtspunkt auf der Stufe darüber vor, um zu sehen, wie weit Luke mit seiner Flasche war. Seit Providence trank er zum ersten Mal wieder Alkohol, und ich war ganz begierig auf das, was passieren würde. In Omars Mondgesicht fingen sich die Scheinwerfer eines vorüberfahrenden Taxis, es leuchtete auf wie eine Papierlaterne. »Scheiß auf Sarah«, meinte er. »Du wirst aufs College gehen und sie schon am ersten Wochenende vergessen haben.« Luke nickte, auch wenn ich spürte, dass sein gefühlsbeladenes Herz anderer Meinung war. Omar nahm auf seinem neuen Handy einen Anruf entgegen. »Die Leute sind unten bei Alice. Trink aus.« Luke setzte die Flasche senkrecht an, und ich beobachtete gespannt, wie die Flüssigkeit in ihm verschwand.
    Wir standen auf, und das Metropolitan Museum ragte wie ein aufgeblähter Sarkophag bedrohlich vor uns auf. Wir gingen die Fifth Avenue entlang und tauchten in Höhe der 79 . Straße in den Park ein. Omar meinte die Skulpturen unten am Bootsteich: Alice, die Grinsekatze, das weiße Kaninchen, der Hutmacher und die Haselmaus. Alle fünf posierten um Bronze-Pilze. Damals, als er noch klein war, hatten Luke und ich ganze Nachmittage auf ihnen herumgeturnt. Sie sprachen mit uns, damals, als ich in Lukes fiebrigen Kinderphantasien mitwirkte. Alice mit ihrer besonnenen Gelassenheit, die Grinsekatze mit ihrer gezwungenen Freundlichkeit. Das Kaninchen war reizend und freundlich, der Hutmacher bissig und bösartig, während die Haselmaus immer tot zu sein schien. In diesem Herbst waren wir schon einmal an ihnen vorbeigegangen, und es war fast traurig, sie als das zu erkennen, was sie tatsächlich waren: stumme Bronzestatuen, kein bisschen lebendiger als ein Felsbrocken oder ein Baum.
    Heute Abend wurden Alice und ihre Freunde von einer Gruppe herumhängender Jugendlicher belagert. Sie trugen Kapuzen-Sweatshirts und schwere Parkas, klobige Turnschuhe und tiefsitzende Jeans. Ihre steifen Baseballkappen hatten sie aus dem Gesicht nach oben geschoben, so dass sie auf dem Kopf saßen wie eine schief sitzende Krone. Omar mischte sich unter die Gruppe und erging sich in kunstvollen Handschlägen, während ich mich ganz in der Nähe aufhielt, um ihre verschlossenen Gesichter zu studieren.
    »Luke«, dröhnte Omar, »du kennst die Jungs doch alle, oder?«
    Luke sah in die Runde und verzog sein Gesicht zu einem Blick mit betont tougher Note. »Keine Ahnung, kann sein.« Sie glotzten ihn an wie ein langweiliges Kunstobjekt an einer Museumswand, etwas, das man aufnimmt, um es gleich wieder hinter sich zu lassen. »Was geht ab?«, fing einer an. Sie sprachen über die Graffitis, auf die sie am stolzesten waren, Werke, die sie an Wassertürme, in Eisenbahntunnel oder auf Eisenbahnwaggons gesprüht hatten. Sie tauschten sich über neueste Strategien und Wege aus, sich die Polizei vom Leib zu halten oder technisch anspruchsvolle Meisterwerke zu schaffen. Sie ließen eine Flasche dunklen Rum rumgehen, und ich ermunterte Luke, das Doppelte zu trinken, wenn er an der Reihe wäre. Er stand an die kalte Flanke des weißen Kaninchens gelehnt und ließ das Gefasel über sich ergehen. Ein zarter, aufgeweckter Junge hockte in Alices Schoß und schlitzte eine Zigarre mit einem Schnappmesser in der Mitte auf. Lukes Aufmerksamkeit wurde kurz von dem Messer in Anspruch genommen, driftete dann aber wieder ab. Meine nicht. Mit einer schnellen Bewegung ließ der Junge die Klinge wieder verschwinden. Er klopfte das Zigarreninnere auf den Boden, zog ein Tütchen Marihuana hervor und begann, die Zigarre mit den krümeligen Bröseln zu füllen.
    »Nimm dir das Messer«, sagte ich. Luke sah

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