Der Andere
hier«, sagte Luke. »Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.«
»Ich hab mir schon gedacht, dass er kommen würde.«
»Ich habe ihm gesagt, dass er gehen soll. Ich dachte mir, du hättest bestimmt nicht gewollt, dass er dich so sieht.«
Claire kam auf uns zu. Ihr Haar war so straff zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, dass ihre Haut eng an den Gesichtsknochen anlag, ganz so, als verhindere nur der stramme Pferdeschwanz ein Verrutschen der Haut. Sie trug eine schwarze Hose, eine schwarze Bluse und kein einziges Schmuckstück. »Nein«, sagte sie. »Du hast recht. Das hätte ich nicht gewollt.« Sie ging zu Luke und streckte ihre Hand aus, um sein Handgelenk, seine Schulter, sein Kinn zu berühren, wobei sich ihre Finger tastend, forschend wie ein blindes Tier vorwärtsbewegten. »Danke«, sagte sie. Und ich sah, dass ihre Schuld damit getilgt war. Ihr wurde vergeben. Es geschah so mühelos, so einfach, und das machte mich wütend.
Während der ersten drei Stunden in der Schule brütete ich vor mich hin, bis wir zum Fotografiekurs ins Kellergeschoss hinuntergingen. Auch ich mochte den gespenstischen schwarz-roten Farbenmix in der Dunkelkammer, den alchemistischen Gestank der Entwicklerflüssigkeit, die rituellen Handgriffe, mit denen das Papier in das Entwicklerbad, das Stoppbad, das Fixierbad und das Wässerungsbad getaucht wurde. Unser Lehrer hatte Kassetten mit klassischer Musik in einen mit Farbe bespritzten Ghettoblaster eingelegt, die er abspielte, während wir arbeiteten. Ich schlenderte durch den Raum, sah den Schülern über die Schulter, während sie in ihre Vergrößerungsgeräte spähten, wobei die Gerätelampen durch die Negative hindurch die Vergrößerungsrahmen darunter beschienen. Die Jugendlichen spielten mit der Blende, zogen ihre Fotos von Parkbänken, Graffiti, Taxen und Wolkenkratzern fahrig in den Brennpunkt und wieder heraus. So sah die Stadt in ihrer Phantasie aus. Erst als alles so war, wie sie dachten, dass es sein sollte, legten sie ein Blatt Entwicklerpapier in den Vergrößerungsrahmen und belichteten es. Die Schüler arbeiteten konzentriert, jeder für sich. Ihre Körper waren reduziert auf betriebsame Schatten im schwachen Rotlicht. Pickel, Fett und ranzige Menschlichkeit blieben verborgen. Hier waren sie etwas Geringeres als Menschen, also besser.
Luke bearbeitete ein Foto des zähnefletschenden Rottweilers. Er behandelte seine Abzüge mit einer nahezu zwanghaften Präzision. Innerhalb der Ränder des Fotos waren seine Entscheidungen über Ausschluss, Einschluss und Proportion endgültig, und der Gedanke daran schien für ihn sowohl berauschend als auch qualvoll zu sein. Der schnappende Kiefer des Hundes und die rollenden irren Augen waren scharf fokussiert, während der Rest des Bildes, der Zaun, das Unkraut, der Zement unscharf in den Hintergrund rückten. Ich beobachtete Sarah an ihrem Vergrößerungsgerät in der anderen Ecke. Sie trug einen Faltenrock und ein Tank-Top, deren Farben im dämmrigen Schein der Dunkelkammer verblasst waren. Sie fuchtelte herum, kratzte sich mit dem Fuß des einen an der Rückseite des nackten anderen Beins und blickte stirnrunzelnd zur Decke. Als Luke durch den Raum lief, um seinen Kopf freizubekommen, warf er einen flüchtigen Blick auf ihre Arbeit: Ein kleines Mädchen stand breitbeinig über einem kunstvoll gefertigten Sandschloss, niedlich und gebieterisch zugleich, in ihrem Rüschenbadeanzug und mit dem schiefen Grinsen.
Die Schüler beendeten einer nach dem anderen ihre Arbeit und verließen die Dunkelkammer. Luke machte noch ein paar Abzüge von dem Rottweiler, war aber unzufrieden mit dem Rahmen und den Proportionen. Er wusste nicht, wie das Foto aussehen sollte, nur, wie es nicht aussehen sollte. »Was ist mit den Fotos von deiner Mutter?«, fragte ich. »Warum entwickelst du die nicht?« Er sah mich missbilligend an und sagte: »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.« Der Lehrer ging, und bald standen nur noch Luke und Sarah an entgegengesetzten Seiten des Raums über ihre Vergrößerungsgeräte gebeugt. Zwischen ihnen befand sich der Entwicklungstisch mit den Flüssigkeitswannen. Ich beugte mich über das Fixierbad und inhalierte tief. Es roch so kraftvoll, so toxisch. Ich dachte, wenn ich ein Mensch wäre, dann wäre das meine Nahrung. Das würde mich stärker machen.
»Luke«, sagte ich. »Sarah steht da drüben. Willst du nicht mit ihr reden?«
Er reagierte nicht. Seit fast drei Wochen hatten sie nicht mehr als ein paar
Weitere Kostenlose Bücher