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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Worte gewechselt. Die Menschen waren so feige, so verklemmt. Doch ausnahmsweise gab es nichts, für das sich Luke schämen musste. Er hatte Macht über Sarah ausgeübt, und sie hatte sich darauf eingelassen. Es war so einfach, auch wenn seine Skrupel danach die Begegnung fast zunichtegemacht hätten. Trotz meiner tiefen Abneigung diesem Mädchen gegenüber war ich dafür, dass er mehr Zeit mit ihr verbrachte, um herauszufinden, wie weit wir noch gehen konnten. Aber Luke hatte Angst und sie deshalb nicht mehr angerufen, seit wir die Hamptons verlassen hatten. Jetzt drehte sie sich um, ein Stück Entwicklungspapier baumelte an ihren Fingern, und hielt inne, als sie Lukes gebeugten Rücken sah. Sie stand da, neigte den Kopf zur Seite, die Haut wirkte geisterhaft. Es schien, als überlege sie, ob sie etwas sagen sollte, aber Luke kam ihr zuvor: »Wer ist das kleine Mädchen?«
    »Was?«
    Er drehte sich zu ihr um. »Auf deinem Foto.«
    »Oh.« Sarah betrachtete den nicht entwickelten Abzug in ihrer Hand, als hätte sie keine Ahnung, woher er kam. »Meine kleine Cousine.«
    Luke blinzelte mich an, und ich gab ihm ein Zeichen, dass er weitermachen solle. »Sie ist bezaubernd.«
    »Ja, das ist sie.« Sarah kam auf uns zu. »Wo warst du, Luke? Ich wollte mit dir reden.«
    Was sagte sie da? Wir waren jeden Tag in der Schule gewesen.
    »Ich war immer hier«, sagte Luke. »Wo sonst?«
    »Das meine ich nicht.« Sarah legte ihren Abzug in das Entwicklerbad und bewegte die Wanne vorsichtig hin und her. »Hör zu. Ich wollte dir sagen, dass ich vielleicht etwas überreagiert habe. Vielleicht war ich auch wütend über mich, weil alles weiter gegangen ist, als ich wollte. Aber du hast dich so seltsam verhalten, dass ich nicht einmal das geschafft habe.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst ihre Vergebung nicht.«
    »Sei still«, sagte Luke.
    Sarah sah von ihrer Arbeit hoch. »Was?«
    »Nichts«, entgegnete Luke schnell. »Ich habe nur … ich wollte nicht, dass es so passiert, am Strand.«
    »Nein«, sagte ich. »Das stimmt doch nicht. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst.«
    »Ich glaube, es ist in Ordnung so«, sagte sie. »Du warst so, ich weiß nicht, so
verängstigt
für den Rest des Abends, und das hat mich noch wahnsinniger gemacht.« Sie nahm ihren Abzug aus dem Entwicklerbad heraus und legte ihn mit einer Plastikzange in das Stoppbad. Ich sah zu, wie die kleine Cousine und ihr kleines Schloss allmählich Gestalt annahmen.
    »Ich hatte keine Angst«, protestierte Luke.
    »Was war es dann? Du konntest mir ja kaum in die Augen sehen.«
    »Ich habe mich geschämt. Das war ich nicht, da draußen.«
    »Halt!«, sagte ich. »Werd jetzt nicht schwach.«
    »Wer war es dann?«
    Luke schwieg und sah auf den Boden.
    »Luke.« Sarah berührte ihn am Arm. »Du weißt, dass ich dich mag, wirklich. Aber ich verstehe dich nicht, und du gibst mir nicht einmal eine Chance. Ich weiß nicht, wie du deine Haltung mir gegenüber von einem auf den anderen Tag so verändern kannst und mir drei Wochen lang aus dem Weg gehst? Wie soll ich das finden?«
    Luke sah zu ihr hoch, die Hände neben dem Körper zur Faust geballt. »Tut mir leid«, sagte er, und das war das Schlimmste, was seinem Mund entfahren konnte.
    »Schon okay.« Sarah knuffte seinen Arm und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn umarmen, tat es dann aber nicht. »Ich möchte, dass wir Freunde sind«, sagte sie. »Aber wir können nicht das sein, was wir in diesem Sommer waren.« Sie wartete darauf, dass Luke etwas entgegnete, aber er sah sie nur an. Beklommen stand sie einen Augenblick lang da und sagte dann: »Rede doch mit mir. Ich kann es nicht ertragen, wenn du nicht mit mir redest.«
    »Ich habe im Augenblick nichts zu sagen.«
    »Das merke ich. Später dann, vermute ich.« Sie beugte sich zu ihm, gab ihm einen Kuss auf die Wange und rannte aus der Dunkelkammer. Luke wandte sich wieder dem Vergrößerungsrahmen und seinem dümmlich zähnebleckenden Rottweiler zu.
    »Hast du es nun kapiert?«, fragte ich.
    »Sei still, Daniel.«
    »Das hast du nun davon. Das hat sie dir nun eingebracht, deine Unterwürfigkeit: Mitleid und einen Kuss auf die Wange.«
     
    Der erste Freitagabend im Oktober. Nasskalte Witterung lag über der Stadt. Luke und Omar hockten in Sweatshirts und Fleecepullis auf den Stufen des Metropolitan Museum, tranken billiges Starkbier aus Literflaschen, die Omar im Feinkostladen geklaut hatte. Das war der neue, verbesserte Omar, der aufgeblasene

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