Der Anfang aller Dinge: Roman (German Edition)
stark, zu charismatisch. Er fiel ganz klar in die Kategorie ›gefährlich‹ und stand dabei an allererster Stelle.
Sie war immer bemüht gewesen, ihm distanziert und förmlich gegenüberzutreten, doch vor wenigen Stunden hatte sie jegliche Zurückhaltung fahren lassen. Man konnte nicht förmlich mit jemandem umgehen, wenn man sich Nase an Nase gegenübersteht und sich anbrüllt.
»Ich bin einfach nicht cool«, murmelte sie vor sich hin, »ganz gleich, wie sehr ich mich auch darum bemühe.« Und, stellte sie seufzend fest, Thorpe wusste das.
In ihrer Kindheit war sie immer das schwarze Schaf gewesen. In ihrer gesetzten, manierlichen Familie war sie diejenige gewesen, die zu viele Fragen gestellt, zu viele Tränen vergossen und zu laut gelacht hatte. Sie hatte sich immer einen richtigen Hund gewünscht, mit dem sie hätte durch den Park tollen können, und nicht diesen kleinen, langweiligen Pudel, den ihre Mutter verhätschelte. Sie hatte sich ein Baumhaus gewünscht und nicht dieses niedliche Spielhaus, das ihr Vater für sie von einem Architekten hatte entwerfen und bauen lassen.
Sie wollte rennen und hüpfen und wurde ständig ermahnt, langsam zu gehen.
Liv hatte es schließlich geschafft, den strengen Regeln und den hohen Erwartungen, die an eine Carmichael gestellt wurden, zu entfliehen. Im College hatte sie ihren Frieden gefunden … und mehr. Damals hatte Liv geglaubt, alles bekommen zu haben, was sie sich im Leben gewünscht hatte. Und dann hatte sie alles verloren. Während der vergangenen sechs Jahre hatte sie an einer neuen Phase ihres Erwachsenwerdens gearbeitet. Der letzten Phase. Sie musste nur an sich und ihre Karriere denken. Sie hatte den Hunger nach Freiheit nicht verloren, aber gelernt, vorsichtig zu sein.
Liv richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Das hier war nicht der richtige Zeitpunkt, um über ihre Vergangenheit nachzudenken. Ihre Gegenwart – und ihre Zukunft – verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit. Ich werde meine Fassung nicht wieder verlieren, versprach sie sich, als sie aus dem Wagen stieg. Diesen Triumph gönne ich ihm nicht.
Sie betrat das O’Riley’s.
Thorpe sah sie hereinkommen. Er hatte nach ihr Ausschau gehalten und bemerkte sofort, dass sie ihre Maske wieder aufgesetzt hatte. Ihr Gesicht war gefasst, die Augen blickten ernst durch das Lokal auf der Suche nach ihm. Hier inmitten des Lärms und Zigarettenqualms wirkte sie wie aus Marmor – kühl und glatt und von erlesener Schönheit. Thorpe wollte sie berühren, ihre Haut spüren, zusehen, wie ihre Augen zu glühen begannen. Wut war nicht die einzige Gefühlsregung, die er in ihr erwecken wollte. Das Verlangen nach ihr, das er seit Monaten unterdrückte, begann sich seiner zu bemächtigen.
Wie lange würde es wohl dauern, ihre diversen Schutzschichten abzuschälen?, überlegte er. Er war gewillt, sich dabei Zeit zu lassen, die Herausforderung zu genießen, weil er entschlossen war, zu gewinnen. Thorpe war es nicht gewöhnt, zu verlieren. Er wartete, bis ihr Blick auf ihn gefallen war. Er lächelte, nickte, erhob sich aber nicht, um sie an seinen Tisch zu führen. Ihre Art, sich zu bewegen, gefiel ihm. Ihr Gang war elegant, fließend, mit einem Hauch von Sinnlichkeit.
»Hallo, Olivia.«
»Guten Abend.« Liv nahm in der Nische ihm gegenüber Platz.
»Was trinken Sie?«
»Wein.« Sie sah zu dem Kellner hoch, der bereits neben ihr stand. »Ein Glas Weißwein, Lou.«
»Gerne, Ms. Carmichael. Für Sie noch einen Scotch, Mr. Thorpe?«
»Nein, danke.« Er hob sein Glas. Das kurze Lächeln, das sie dem jungen Kellner geschenkt hatte, war ihm nicht entgangen. Es hatte ihr Gesicht für einen kurzen Moment aufgehellt. Als sich ihre Augen wieder auf ihn richteten, war die Wärme daraus verschwunden.
»Also schön, Thorpe; wenn wir reinen Tisch machen wollen, so schlage ich vor, dass wir gleich damit anfangen.«
»Sind Sie immer so geschäftsmäßig, Liv?« Er zündete sich eine Zigarette an und studierte ihr Gesicht. Sein größter Vorzug war die Fähigkeit, Menschen endlos lange und ganz direkt ansehen zu können. Mehr als ein hochkarätiger Politiker hatte schon unter seinem dunklen, geduldigen Blick die Waffen gestreckt.
Liv gefiel diese stille Macht nicht, und noch weniger die Wirkung, die sie auf sie ausübte. »Wir haben uns doch hier getroffen, um über die Geschichte von heute Morgen zu …«
»Haben Sie noch nie etwas von höflicher Konversation gehört?« , unterbrach er sie. »Wie geht es Ihnen?
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