Der Anruf kam nach Mitternacht
Sie neigte den Kopf und drückte einen Kuss auf seine Lippen. »Also auf nach Berlin«, flüsterte sie.
»Ja«, murmelte er und zog sie fest an sich. »Auf nach Berlin.«
9. KAPITEL
Es war ein strahlend schöner Morgen. Die Bahnschienen glänzten wie Silber in der Morgensonne. Dampfschwaden stiegen von den Schwellen auf. Auf dem Bahnsteig, wo Sarah wartete, zogen sich die Pendler bereits ihre Regenmäntel aus. Es würde ein warmer Tag werden, so schön wie man es von einem Apriltag erwartete. Belgien hatte einen langen, nassen Winter hinter sich, und das Land sehnte sich nach dem Frühling.
Nick und Sarah standen recht weit voneinander entfernt auf demselben Bahnsteig und tauschten nur gelegentlich kurze Blicke. Nick war nicht wiederzuerkennen. Er lehnte gegen einen Pfosten, hatte seine Mütze tief in die Stirn gezogen, eine Zigarette hing schief in seinem Mundwinkel, und er blickte finster drein.
Von ihrer Stelle fast am Ende der Schlange der einsteigenden Fahrgäste sah Sarah, wie Nick seine Zigarette mit dem Schuh austrat und in den abfahrbereiten Zug nach Antwerpen einstieg. Sekunden später tauchte sein Gesicht an einem der Fenster auf. Sie sahen sich beide nicht an.
Die Schlange wurde kürzer. Nur noch wenige Schritte, und sie würde im Zug in Sicherheit sein. Dann nahm sie aus dem Augenwinkel ein eigenartiges Aufblitzen wahr. Mit einer plötzlichen Vorahnung drehte sie sich unauffällig in die Richtung um. Es war das Sonnenlicht, das von einer Spiegelbrille reflektiert wurde.
Sarah erstarrte. Weiter hinten stand ein Mann mit hellen Haaren, ein Mann, der seinen Blick auf die Zugtür gerichtet hielt. Obwohl er zum Teil von einem Pfosten verborgen wurde, konnte Sarah genügend von seinem Gesicht sehen, um ihn zu erkennen. Ihr gefror das Blut in den Adern. Es war derselbe Mann, der sie durch das Fenster des blauen Peugeot angestarrt hatte. Der Mann mit dem schrecklichen Grinsen.
Und sie musste jeden Augenblick in sein Blickfeld treten.
Sarahs erster Impuls war, sich umzudrehen und wegzurennen, inmitten der großen Menge der Berufstätigen zu verschwinden. Doch eine hastige Bewegung würde seine Aufmerksamkeit erst recht auf sie lenken. Sie konnte nicht zurück. Der Mann würde sie fortgehen sehen und sich fragen, warum sie das tat. Sie musste weitergehen und darauf bauen, dass er sie nicht wiedererkennen würde.
Verzweifelt suchte sie den Zug nach dem Fenster ab, an dem sie vorhin Nick erblickt hatte. Wenn sie ihm doch nur ein Zeichen geben könnte! Aber das Fenster war zu weit hinten, sie konnte ihn nicht sehen.
Am Anfang der Reihe hatte ein älterer Passagier seine Fahrkarte zu Boden fallen lassen. Er bückte sich langsam, um sie aufzuheben. Lieber Himmel, beeile dich!, flehte Sarah. Je länger sie warten musste, desto besser konnte man sie beobachten. Sie bezwang die in ihr aufsteigende Panik und bemühte sich, in die von ihr gewählte Rolle einer kränklichen belgischen Hausfrau zu schlüpfen.
Sarah hielt den Blick zu Boden gesenkt und umklammerte mit beiden Händen ihre Handtasche vor der Brust. Ihr Herz klopfte wie wild. Die schwarze Perücke war ein herrlicher Schutz vor den Augen des Mannes. Vielleicht würde sie reichen, denn der Mann suchte nach einer Frau mit kupferroten Haaren. Möglicherweise würde sie ihm so nicht auffallen.
»Madame?«
Sie zuckte unter dem Griff an ihrem Arm zusammen. Ein alter Mann zupfte an ihrem Ärmel. Verständnislos starrte sie ihn an, als er sie in lautem, schnellem Französisch ansprach. Sie versuchte, ihm ihren Arm zu entziehen, aber er ließ nicht locker und wedelte mit einem Frauenschal. Noch einmal wiederholte er seine Frage und wies erneut zu Boden. Plötzlich begriff Sarah, schüttelte den Kopf und bedeutete ihm mit einer verneinenden Geste, dass sie den Schal nicht verloren habe. Der alte Mann zuckte die Schultern und ging schließlich weiter.
Den Tränen nahe drehte Sarah sich wieder um und wollte endlich einsteigen. Aber jemand versperrte ihr den Weg.
Sie hob den Kopf und blickte in ihr eigenes entsetztes, von der Sonnenbrille reflektiertes Gesicht.
Der Blonde lächelte. »Madame?«, sagte er leise. »Kommen Sie …«
»Nein. Nein!«, wisperte Sarah und machte einen Schritt rückwärts.
Er kam auf sie zu, und dann blinkte plötzlich ein Messer in seiner Hand auf. Das Bild prägte sich ihr unauslöschlich im Gedächtnis ein. Sarah hatte das Gefühl, benommen rückwärts zu fallen, ehe sie begriff, dass es an der Bewegung des anfahrenden Zuges
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