Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Stimmenerkennen. Wenn Sie in alten Rec-Zeiten mit Harry befreundet gewesen wären, wären Sie jetzt über sechzig, aber das sind Sie nicht. Ihre Stimme klingt, als wären Sie nicht älter als fünfunddreißig.«
    Himmel, Volltreffer. »Die Leute sagen immer, dass meine Stimme für mein Alter sehr jugendlich klingt. Das hören Sie bestimmt auch oft.«
    »Netter Versuch«, sagte sie ausdruckslos, und ihre Stimme klang plötzlich tatsächlich älter. »Den Sonnenschein in meiner Stimme habe ich mir in jahrelanger Arbeit antrainiert. Sie vielleicht auch?«
    Mir fiel keine Antwort ein, deshalb schwieg ich.
    »Außerdem ruft niemand an, um sich nach jemand zu erkundigen, mit dem er in der Grundschule befreundet war. Nicht fünfzig Jahre später.«
    Am besten legst du auf, dachte ich. Du hast bekommen, was du wolltest – sogar mehr als erwartet. Leg einfach auf. Aber der Hörer schien an meinem Ohr zu kleben. Ich weiß nicht, ob ich ihn fal len lassen hätte, wenn die Wohnzimmervorhänge in Flammen auf gegangen wären.
    Als sie weitersprach, klang ihre Stimme stockend. »Sind Sie er?«
    »Ich weiß nicht, was Sie …?«
    »In jener Nacht war noch jemand im Haus. Harry hat ihn gesehen, und ich auch. Sind Sie das?«
    »Welche Nacht?« Nur klang das wie Wech Nach, weil meine Lippen plötzlich gefühllos waren. Als hätte mir jemand eine Gesichtsmaske aufgesetzt. Eine mit Schnee gefüllte Maske.
    »Harry hat gesagt, das wär sein Schutzengel gewesen. Ich glaube, Sie waren das. Wo sind Sie also gewesen?«
    Jetzt klang ihre Stimme undeutlich, weil sie angefangen hatte zu weinen.
    »Ma’am … Ellen … ich verstehe nicht, was …«
    »Ich habe ihn zum Flughafen gebracht, als er den Marschbefehl bekommen hatte und sein Urlaub zu Ende war. Er musste nach Vietnam, und ich habe ihn gewarnt, er soll gut auf sich aufpassen. Er hat gesagt: ›Mach dir keine Sorgen, du weißt doch, dass ich einen Schutzengel habe.‹ Wo waren Sie also am 6. Februar 1968, Mr. Engel? Wo waren Sie, als mein Bruder bei Khe Sanh gefallen ist? Wo waren Sie damals, Sie blöder Mistkerl? «
    Sie sagte noch etwas, aber das verstand ich nicht mehr. Inzwischen weinte sie zu heftig. Ich wollte ohnehin nicht weiter zuhören. Ich legte den Hörer auf. Ich ging ins Bad, setzte mich in die Wanne, zog den Duschvorhang zu und ließ den Kopf so zwischen den Knien hängen, dass ich die Gummimatte mit den gelben Gänseblümchen anstarrte. Dann schrie ich laut. Einmal. Zweimal. Dreimal. Und nun das Schlimmste: Ich wünschte mir nicht nur, Al hätte mir niemals von seinem gottverdammten Kaninchenbau erzählt. Ich wünschte mir, er wäre tot.
    9
    Ein ungutes Gefühl beschlich mich, als ich in seine Einfahrt einbog und sah, dass im ganzen Haus kein Licht brannte. Es wurde schlimmer, als ich feststellte, dass die Haustür nicht abgesperrt war.
    »Al?«
    Nichts.
    Ich fand den Lichtschalter und machte Licht. Im Wohnbereich herrschte die sterile Ordnung von Räumen, die regelmäßig geputzt, aber nicht mehr viel benutzt wurden. Die Wände waren mit gerahmten Fotos bedeckt. Fast alle von Leuten, die ich nicht kannte – vermutlich Als Verwandtschaft –, aber das Paar über der Couch erkannte ich: John und Jacqueline Kennedy. Sie standen am Strand – wahrscheinlich in Hyannis Port – und hatten die Arme umeinandergelegt. Der Duft von Glade-Raumspray hing in der Luft, konnte aber den Krankenzimmergeruch aus einem anderen Teil des Hauses nicht ganz überdecken. Irgendwo sangen die Temptations sehr leise »My Girl«. Sonnenschein an einem bewölkten Tag und so weiter.
    »Al? Bist du da?«
    Wo sollte er sonst sein? Im Studio Nine in Portland beim Discotanzen und Collegeweiberabschleppen? Ich wusste es besser. Ich hatte mir etwas gewünscht, und manchmal gingen Wünsche in Erfüllung.
    Ich tastete nach den Lichtschaltern in der Küche, fand sie und überflutete den Raum mit genügend Neonlicht für eine Blinddarmoperation. Auf dem Tisch stand eine Medikamentenbox mit Fächern für jeden Wochentag. Die meisten dieser Boxen waren so klein, dass sie in eine Tasche oder Handtasche passten, aber diese hatte Lexikongröße. Vor ihr lag eine auf einen Ziggy-Notizzettel gekritzelte Mitteilung: Wenn Sie Ihre 8-Uhr-Ration vergessen, BRING ICH SIE UM!!!! Doris.
    »My Girl« war zu Ende, und »Just My Imagination« begann. Ich folgte der Musik in den Krankenzimmergestank. Al lag im Bett. Er sah relativ friedlich aus. Am Ende war aus den äußeren Ecken der beiden geschlossenen Augen je eine

Weitere Kostenlose Bücher