Der Anschlag - King, S: Anschlag
was mich hoffnungsvoll stimmte. Wenn man jung war und ein kleines Kind und einen Mann hatte, der körperlich arbeitete – was seine aufgesprungenen, schwieligen Hände zeigten –, konnten zweihundert Dollar eine Menge Lebensmittel bedeuten. Oder, im Jahr 1958, zweieinhalb Hypothekenzahlungen für ihr Haus.
»Mir würd’s nichts ausmachen, einen Nachmittag im Wald zu verpassen«, sagte Cullum. »In Stadtnähe ist sowieso alles leer geschossen. Der einzige Ort, an dem man noch ’nen verdammten Hirsch schießen kann, ist das Gebiet am Bowie Hill.«
»Hüte deine Zunge, wenn das Baby dabei ist, Mr. Cullum«, sagte sie. Ihre Stimme klang scharf, aber sie lächelte, als er sie auf die Wange küsste.
»Mr. Amberson, ich muss mit meiner Frau reden«, sagte Cullum. »Macht es Ihnen was aus, ein, zwei Minuten vor der Tür zu warten?«
»Ich weiß was Besseres«, sagte ich. »Ich fahre zu Brownie’s und hole mir ein Dope.« So nannten die meisten Leute in Derry eine Limonade. »Soll ich einem von Ihnen ein kaltes Getränk mitbringen?«
Sie lehnten dankend ab, und dann machte Marnie Cullum mir die Tür vor der Nase zu. Ich fuhr zu Brownie’s, wo ich einen frisch gepressten Orangensaft trank und eine Lakritzstange kaufte, die das Baby vielleicht mögen würde, wenn es schon groß genug war, um solche Dinge haben zu dürfen. Die Cullums würden mich abweisen, glaubte ich. Mit bestem Dank, aber nachdrücklich. Ich war ein Unbekannter mit einem verrückten Vorschlag. Ich hatte gehofft, dass sich die Vergangenheit dieses Mal leichter ändern lassen würde, weil Al sie schon zweimal geändert hatte. Offenbar war das nicht der Fall.
Mich erwartete jedoch eine Überraschung. Cullum sagte ja, und seine Frau erlaubte mir, die Lakritzstange dem kleinen Mädchen zu geben, das fröhlich glucksend danach griff, daran lutschte und sie dann als Kamm benutzte. Sie luden mich sogar zum Abendessen ein, was ich höflich ausschlug. Ich bot Andy Cullum fünfzig Dollar als Anzahlung an, die er ablehnte … bis seine Frau darauf bestand, dass er sie nahm.
Ich fuhr in bester Laune zum Sebago Lake zurück, aber als ich am Morgen des Fünfzehnten wieder nach Durham fuhr (auf den Feldern lag so dicker Raureif, dass die orangerot gekleideten Jäger, die en masse unterwegs waren, Spuren hinterließen), war meine Stimmung umgeschlagen. Er wird die State Police oder den hiesigen Wachtmeister angerufen haben, dachte ich. Und während sie dich auf dem nächsten Polizeirevier befragen, um rauszukriegen, was für eine Art Verrückter du bist, ist Cullum unterwegs, um in den Wäl dern am Bowie Hill zu jagen.
Aber in der Einfahrt stand kein Streifenwagen, nur Andy Cullums Ford-Kombi mit dem Holzdekor. Ich nahm mein neues Spielbrett mit und ging zur Haustür. Er machte mir auf und fragte: »Sind Sie bereit für Ihren Kurs, Mr. Amberson?«
Ich lächelte. »Ja, Sir, das bin ich.«
Er nahm mich mit auf die Veranda hinter dem Haus; vermutlich weil seine Frau mich nicht bei sich und dem Baby im Haus haben wollte. Die Spielregeln waren einfach. Mit den Stiften steckte man die gewonnenen Punkte ab, und ein Spiel bestand aus zwei Runden um das Spielbrett. Ich lernte, was der richtige Bube war, was »zwei für die Hacken« bedeutete, wann man im Schlammloch steckte und was Andy die »mystische Neunzehn« nannte – die sogenannte unmögliche Punktzahl. Dann spielten wir. Anfangs zählte ich noch mit, aber damit hörte ich auf, sobald Cullum vierhundert Punkte Vorsprung hatte. Ab und zu gab irgendein Jäger in der Ferne einen Schuss ab, der Cullum dazu brachte, zum Wald hinter seinem kleinen Garten hinüberzusehen.
»Nächsten Samstag«, sagte ich bei einem dieser Male. »Nächsten Samstag sind Sie bestimmt wieder draußen.«
»Wahrscheinlich bei Regen«, sagte er. Und lachte dann. »Aber ich kann mich nicht beschweren, was? Ich hab Spaß und verdiene dabei Geld. Und Sie werden besser, George.«
Marnie rief uns mittags zum Essen: selbst gekochte Tomatensuppe und große Thunfischsandwichs. Wir aßen in der Küche, und als wir fertig waren, schlug sie vor, wir sollten mit unserem Spiel ins Haus kommen. Sie hatte entschieden, dass ich doch nicht gefährlich war. Das machte mich glücklich. Sie waren ein nettes Paar, die Cullums. Ein nettes Paar mit einem netten Baby. Ich musste manchmal an sie denken, wenn ich hörte, wie Lee und Marina Oswald sich in ihren schäbigen Wohnungen anschrien … oder sah, was mindestens einmal der Fall war, wie sie sich auf offener
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