Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
fragte, und es war nicht gelogen. Er gab mir einen Schlüssel für den Geräteschuppen, und ich holte mir dort ein Kanu, mit dem ich jeden Morgen und Abend unterwegs war, wenn das Wasser sich ruhig verhielt. Ich erinnere mich daran, wie ich an einem dieser Abende den Vollmond lautlos über den Bäumen aufsteigen sah und wie er eine silberne Spur übers Wasser zog, während das Spiegelbild meines Kanus wie ein ertrunkener Zwilling unter mir hing. Irgendwo rief ein Seetaucher, dem ein anderer antwortete, worauf weitere in die Konversation einfielen. Ich legte mein Stechpaddel neben mich, saß dreihundert Meter vom Ufer entfernt einfach da, beobachtete den Mond und hörte der Unterhaltung der Seetaucher zu. Ich weiß noch, wie ich dachte, falls es irgendwo ein Paradies gäbe und es nicht wie dies hier aussähe, würde ich nicht hinwollen.
    Die Herbstfarben begannen zu erblühen – erst schüchtern gelb, dann orange, zuletzt feurig rot, als der Herbst einen weiteren Som mer in Maine beendete. In dem Lebensmittelgeschäft standen Kartons mit Taschenbüchern ohne Umschläge, und ich las mindestens drei Dutzend davon: Krimis von Ed McBain, John D. MacDonald, Chester Himes und Richard S. Prather; schwülstige Melodramen wie Die Leute von Peyton Place und Die Gnadenlosen; Dutzende von Westernromanen und einen SF -Roman mit dem Titel Die Lincoln-Jäger, in dem Zeitreisende versuchten, eine »verloren gegangene« Rede Abraham Lincolns aufzuzeichnen.
    Wenn ich nicht las oder mit dem Kanu unterwegs war, wanderte ich durch die Wälder. Die langen Herbstnachmittage waren überwiegend dunstig und warm. Nachts war die Stille so tief, dass sie widerzuhallen schien. Auf der Route 114 fuhren nur wenige Autos vorbei, und gegen zehn Uhr abends kam der Verkehr ganz zum Erliegen. Nach zehn gehörte dieser Teil der Welt, in dem ich mich erholte, nur den Seetauchern und dem Nachtwind in den Baumwipfeln. Ganz allmählich begann das Bild von Frank Dunning auf dem Grab seines Vaters zu verblassen, und ich merkte, dass ich mich immer seltener wie aus heiterem Himmel daran erinnerte, wie ich das noch schwelende Souvenirkissen im Mausoleum der Familie Tracker auf seine starrenden Augen fallen ließ.
    Ende Oktober, als die letzten Blätter von den Bäumen segelten und die Nachttemperaturen um den Gefrierpunkt pendelten, begann ich mit meinen Fahrten nach Durham hinein, um das Gebiet um den Bowie Hill – wo in zwei Wochen jemand angeschossen werden würde – zu erkunden. Das Meetinghaus der Quäker, das Al erwähnt hatte, bildete einen guten Ausgangspunkt. Nicht weit davon entfernt ragte ein abgestorbener Baum halb über die Straße – vermutlich genau der, mit dem Al gekämpft hatte, als Andrew Cullum, der bereits seine orangerote Jägerweste trug, vorbeigekommen war. Ich legte auch Wert darauf, das Haus des Unglücksschützen ausfindig zu machen und nachzuvollziehen, auf welcher Route er wahrscheinlich zum Bowie Hill gelangen würde.
    Mein Plan war eigentlich gar kein Plan; ich würde nur dem Pfad folgen, den Al schon gebahnt hatte. Ich würde frühmorgens nach Durham fahren, in der Nähe des umgestürzten Baums par ken, mich damit abmühen, ihn von der Straße zu wälzen, und angeblich einen Herzanfall erleiden, wenn Cullum vorbeikam und mir beim Wegräumen helfen wollte. Aber als ich das Haus der Cullums ausfindig gemacht hatte, hielt ich eine halbe Meile weiter bei Brownie’s Store, um etwas Kaltes zu trinken, und sah im Schau fenster ein Plakat, das mich auf eine Idee brachte. Sie war verrückt, aber irgendwie interessant.
    Oben auf dem Plakat stand: CRIBBAGE-TURNIER IN DER ANDROSCOGGIN COUNTY – ERGEBNISLISTE. Dar unter folgten ungefähr fünfzig Namen. Der Turniersieger aus West Minot hatte zehntausend »Stifte« erzielt, was immer das bedeutete. Der Zweite war auf neuneinhalbtausend gekommen. Den dritten Platz hatte mit 8722 Stiften – sein Name war rot umringelt, deshalb war er mir überhaupt aufgefallen – Andy Cullum belegt.
    Natürlich gibt es Zufälle, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sie ziemlich selten sind. Irgendwas ist am Werk, okay? Irgendwo im Universum (oder dahinter) tickt eine Maschine und lässt ihre fabelhaften Zahnräder schnurren. Ab und zu wird ein Joker aus dem Kartenstapel gezogen, aber die meisten Ereignisse laufen planmäßig ab.
    Am folgenden Tag fuhr ich kurz vor fünf am Nachmittag wieder zum Haus der Cullums. Ich parkte hinter seinem Ford-Kombi mit Holzdekor an den Seiten und ging zur

Weitere Kostenlose Bücher