Der Anschlag - King, S: Anschlag
schnappten nach Luft, zu entsetzt, um zu kichern. Anders als die meisten damaligen Amerikaner trug de Mohrenschildt kein Unterhemd. Seine Haut hatte die Farbe von geöltem Mahagoni. An schlaffen Muskeln hingen fette Brüste. Er schlug sich mit der rechten Faust an eine Stelle über der linken Brustwarze. »Sag ihnen: ›Hier ist mein Herz, und mein Herz ist rein, und mein Herz gehört meiner Sache!‹ Sag ihnen: ›Auch wenn Hoover mir das Herz aus dem Leib reißt, schlägt es weiter, und tausend andere Herzen schlagen im Gleichtakt! Dann zehntausend! Dann hunderttausend! Dann eine Million!‹«
Orlov stellte seinen Karton mit Konservendosen ab, um die Hände für einen leisen, ironischen Applaus frei zu haben. Marinas Wangen glühten förmlich. Lees Gesichtsausdruck war am interessantesten. Wie Paulus von Tarsus auf der Straße nach Damaskus hatte er eine Offenbarung erlebt.
Die Blindheit war von seinen Augen gefallen.
3
De Mohrenschildts Predigt und seine Mätzchen mit dem aufgerissenen Hemd – gar nicht so viel anders als der Zirkuszeltklamauk der rechtsradikalen Prediger, die er geschmäht hatte – beunruhigten mich zutiefst. Ich hatte gehofft, ein vertrauliches Gespräch zwischen den beiden Männern mithören zu können, das vielleicht einiges dazu beitragen konnte, de Mohrenschildt als echten Faktor des Anschlags auf Walker und somit auch des Kennedy-Attentats zu eliminieren. Dieses vertrauliche Gespräch hatte es gegeben, aber es hatte alles nicht besser, sondern nur noch schlimmer gemacht.
Eines schien jedoch klar zu sein: Es wurde Zeit, der Mercedes Street ohne großes Bedauern adieu zu sagen. Ich hatte die Erdgeschosswohnung im Haus West Neely Street 214 gemietet. Am 24. September belud ich meinen alternden Ford Sunliner mit meiner wenigen Kleidung, meinen Büchern und meiner Schreibmaschine und brachte das Zeug nach Dallas.
Die beiden dicken Damen hatten einen Saustall mit Krankenzimmergestank hinterlassen. Ich putzte ihn eigenhändig und war dabei Gott dankbar, dass Als Kaninchenbau in eine Zeit führte, in der es schon Raumspray zu kaufen gab. Bei einem Garagenverkauf erstand ich einen tragbaren Fernseher, den ich in der Küche neben dem Herd (dem Depot für altes Bratenfett, wie ich ihn nannte) auf die Arbeitsplatte stellte. Während ich kehrte, putzte, schrubbte und sprühte, sah ich Krimiserien wie Die Unbestechlichen und Sitcoms wie Wagen 54, bitte melden. Wenn das Geschrei und Getrappel der Kinder über mir für die Nacht verstummte, ging ich ins Bett und schlief wie ein Toter. Ich hatte keine Träume.
Ich behielt das Haus in der Mercedes Street, aber in der Nummer 2703 gab es nicht viel zu sehen. Manchmal setzte Marina June in einen Sportwagen (ein weiteres Geschenk von Mr. Bouhe, ihrem bejahrten Verehrer) und schob sie bis zum Parkplatz und wieder zurück. Nachmittags nach Schulschluss wurden sie oft von den drei Springseilmädchen begleitet. Marina sprang sogar ein paarmal selbst, wobei sie etwas auf russisch skandierte. Beim Anblick seiner auf und ab hüpfenden Mama, deren dunkle Mähne um ihren Kopf flog, musste das Baby lachen. Auch die Springseilmädchen lachten. Marina störte das nicht. Sie redete viel mit ihnen und wirkte nie verärgert, wenn sie kicherten und sie verbesserten. Sie wirkte sogar erfreut. Lee wollte nicht, dass sie Englisch lernte, aber sie lernte es trotzdem. Schön für sie.
Am 2. Oktober 1962 wachte ich in meiner Wohnung in der Neely Street bei unheimlicher Stille auf: keine rennenden Schritte über mir, keine junge Mutter, die ihre beiden Ältesten anschrie, sie sollten sich für die Schule fertig machen. Sie waren mitten in der Nacht ausgezogen.
Ich ging nach oben und versuchte, ihre Tür mit meinem Schlüssel aufzusperren. Das klappte zwar nicht, aber das einfache Federschloss ließ sich leicht mit einem Drahtkleiderbügel öffnen. Im Wohnzimmer sah ich ein leeres Bücherregal stehen. Ich bohrte ein dünnes Loch durch den Fußboden, schloss die zweite verwanzte Lampe an und führte die Litze durch das Loch hinunter in meine Wohnung. Dann schob ich das Bücherregal darüber.
Die Wanze funktionierte gut, aber die Spulen meines raffinierten japanischen Bandgeräts drehten sich nur, wenn potenzielle Mieter bei der Wohnungsbesichtigung zufällig die Lampe anknipsten. Es gab Interessenten, aber keiner biss an. Bis die Oswalds einzogen, hatte ich das Haus in der Neely Street ganz für mich allein. Nach dem lärmenden Treiben in der Mercedes Street war das
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