Der Anschlag - King, S: Anschlag
ohne die geringste Vorwarnung ins Gesicht. Marina ging zu Boden, sie blutete aus Mund und Nase und heulte lautstark. Lee sah auf sie hinab. Das Baby weinte ebenfalls. Lee streichelte Junes feines Haar, küsste sie auf die Wange und wiegte sie noch etwas. Marina kam wieder in Sicht. Sie versuchte sich aufzurappeln. Lee trat sie in die Seite, worauf sie wieder zu Boden ging. Von ihr war nur noch die dunkle Mähne zu sehen.
Verlass ihn, dachte ich, obwohl ich wusste, dass sie das nicht tun würde. Nimm die Kleine mit, und verlass ihn. Geh zu George Bouhe. Wärm sein Bett, wenn’s sein muss, aber sieh zu, dass du schnellstens von diesem dürren, unter der Fuchtel seiner Mutter stehenden Ungeheuer wegkommst.
Aber es war Lee, der sie verließ, zumindest vorübergehend. In der Mercedes Street sah ich ihn nie wieder.
5
Es war ihre erste Trennung. Lee ging auf Arbeitssuche nach Dallas. Wo er dort unterkam, wusste ich nicht. In Als Notizen stand, er habe beim Y.M.C.A. gewohnt, aber das stimmte nicht. Vielleicht lebte er in einer der Billigpensionen am Rand der Innenstadt. Mir machte das keine Sorgen. Ich wusste, dass sie gemeinsam aufkreuzen würden, um die Wohnung über meiner zu mieten, zudem hatte ich vorerst genug von ihm. Es war eine Wohltat, nicht mehr seine verlangsamte Stimme hören zu müssen, die bei jedem Gespräch ein Dutzend Mal Wie wahr sagte.
Dank George Bouhe fiel Marina auf die Beine. Nicht lange nach Marguerites Besuch und Lees Verschwinden kamen Bouhe und ein weiterer Mann mit einem Chevy-Pick-up, um ihr beim Umzug zu helfen. Als der Pick-up die Mercedes Street 2703 verließ, fuhren Mutter und Tochter auf der Ladefläche. Der rosa Koffer, den Marina aus Russland mitgebracht hatte, war mit Wolldecken ausgelegt, und June lag fest schlafend in diesem Nest. Beim Losfahren legte Marina eine Hand auf die Brust der Kleinen, um sie zu stabilisieren. Die Springseilmädchen beobachteten sie, und Marina winkte ihnen zu. Sie winkten zurück.
6
Ich fand George de Mohrenschildts Adresse im Telefonbuch für Dallas und beschattete ihn zweimal. Ich war neugierig, mit wem er sich treffen würde, aber auch wenn er ein CIA -Mann, ein Helfershelfer des Lansky-Mobs oder Mitglied irgendeiner Verschwörung gewesen wäre, hätte ich das wohl nicht herausbekommen. Er fuhr zur Arbeit; er ging in den Dallas Country Club, wo er Tennis spielte oder mit seiner Frau schwamm; sie besuchten ein paar Striplokale. Die Tänzerinnen belästigte er nicht, aber er hatte eine Vorliebe dafür, seiner Frau in aller Öffentlichkeit den Busen oder den Hintern zu tätscheln. Ihr schien das nichts auszumachen.
Bei zwei Gelegenheiten traf er sich mit Oswald. Das erste Mal im bevorzugten Stripclub der de Mohrenschildts. Lee schien sich in diesem Milieu nicht wohlzufühlen, und sie blieben nicht lange. Beim zweiten Mal aßen sie in einem Café in der Browder Street zu Mittag. Dort blieben sie bis fast um zwei sitzen und sprachen bei endlos vielen Tassen Kaffee miteinander. Lee wollte aufstehen, überlegte sich die Sache anders und bestellte noch etwas. Als die Bedienung ihm ein Stück Kuchen brachte, drückte er ihr etwas in die Hand, was sie nach einem flüchtigen Blick in ihre Schürzentasche steckte. Statt den beiden zu folgen, als sie gingen, sprach ich die Bedienung an und fragte sie, ob ich sehen dürfe, was der junge Mann ihr gegeben habe.
»Ich schenk’s Ihnen«, sagte sie und gab mir einen gelben Handzettel, auf dem oben in fetter Blockschrift HÄNDE WEG VON KUBA! stand. Im Text wurden »interessierte Personen« aufgefordert, sich der Ortsgruppe Dallas/Fort Worth dieser ausgezeichneten Organisation anzuschließen. LASSEN SIE SICH NICHT VON ONKEL SAM ÜBERTÖLPELN! SCHREIBEN SIE AN POSTFACH 1919, UM EINZELHEITEN ÜBER ZUKÜNFTIGE VERSAMMLUNGEN ZU ERFAHREN.
»Worüber haben die beiden geredet?«, fragte ich.
»Sind Sie ein Cop?«
»Nein, ich gebe bessere Trinkgelder als Cops«, sagte ich und gab ihr einen Fünfer.
»Über dieses Zeug«, sagte sie und zeigte auf den Handzettel, den Oswald zweifellos an seiner neuen Arbeitsstätte gedruckt hatte. »Kuba. Als ob mir das nicht scheißegal wär.«
Aber am Abend des 22. Oktober, keine Woche später, sprach auch President Kennedy über Kuba. Und plötzlich war es niemand mehr scheißegal.
7
Es ist eine Blues-Floskel, dass man das Wasser nie vermisste, bevor der Brunnen austrocknete, aber bis zum Herbst 1962 war mir nie klar gewesen, dass das auch für das Getrappel kleiner Füße galt, das
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