Der Anschlag - King, S: Anschlag
erholsam, obwohl mir die Springseilmädchen irgendwie fehlten. Sie waren mein griechischer Chor.
4
Ich schlief nachts in meiner Wohnung in Dallas und beobachtete tagsüber, wie Marina ihr Kind spazieren fuhr. Während ich damit beschäftigt war, nahte ein weiterer wichtiger Augenblick der Sechzigerjahre, aber ich ignorierte ihn. Ich war durch die Oswalds abgelenkt, die gerade die nächste häusliche Krise durchlebten.
In der zweiten Oktoberwoche kam Lee eines Tages früh von der Arbeit. Marina war mit June unterwegs. Sie sprachen auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Fuß der Einfahrt miteinander. Gegen Schluss des Gesprächs fragte Marina auf englisch: »Was bedeuten entge-lassen? «
Er erklärte es ihr auf russisch. Marina breitete die Hände in einer Was-kann-man-machen-Geste aus und umarmte ihn. Lee küsste sie auf die Wange, dann hob er die Kleine aus dem Sportwagen. June lachte, als er sie hoch über seinen Kopf hielt, und versuchte, ihn mit beiden Händen an den Haaren zu ziehen. Sie gingen miteinander ins Haus. Eine glückliche kleine Familie, die eine vorübergehende Widrigkeit tapfer ertrug.
Das hielt bis fünf Uhr abends an. Ich wollte schon in die Neely Street zurückfahren, als ich Marguerite Oswald entdeckte, die von der Bushaltstelle Winscott Road heranmarschiert kam.
Ärger im Anmarsch, dachte ich, und wie recht ich damit hatte!
Auch heute vermied Marguerite die immer noch nicht reparierte Aha-Stufe; auch diesmal trat sie ein, ohne anzuklopfen, und das Feuerwerk ging sofort los. Der Abend war so warm, dass drüben die Fenster offen standen. Ich machte mir nicht die Mühe, das Richtmikrofon zu benutzen. Lee und seine Mutter stritten sich in voller Lautstärke.
Anscheinend hatte die Firma Leslie Welding ihn doch nicht entlassen; Lee war einfach gegangen. Weil die Firma knapp an Arbeitskräften war, hatte sein Chef bei Vada Oswald angerufen, und als Roberts Frau ihm nicht hatte weiterhelfen können, hatte er Marguerite angerufen.
»Ich hab für dich gelogen, Lee!«, schrie Marguerite. »Ich hab gesagt, du hättest die Grippe! Warum zwingst du mich dazu, immer wieder für dich zu lügen?«
»Ich zwinge dich zu gar nichts!«, brüllte er zurück. Sie standen Nase an Nase im Wohnzimmer. »Ich zwinge dich zu gar nichts, und du tust es trotzdem!«
»Lee, wie willst du deine Familie ernähren? Du brauchst einen Job!«
»Oh, ich kriege schon einen! Mach dir deswegen keine Sorgen, Ma!«
»Wo?«
»Weiß noch nicht …«
»Oh, Lee! Wovon willst du die Miete zahlen?«
»… aber sie hat massenhaft Freunde.« Er wies mit dem Daumen auf Marina, die daraufhin zusammenzuckte. »Für viel sind sie nicht gut, aber dafür schon. Du musst hier verschwinden, Ma. Fahr nach Hause. Lass mich mal Luft holen.«
Marguerite stürzte sich auf den Laufstall. »Wo ist der her?«
»Von den Freunden, die ich eben erwähnt habe. Die Hälfte davon ist reich, die andere versucht es zu werden. Sie reden gern mit Rina.« Lee grinste hämisch. »Die Älteren glotzen gern ihre Titten an.«
»Lee!« Das klang schockiert, aber ihre Miene wirkte … erfreut? Freute Mamotschka sich über den Zorn, den sie in der Stimme ihres Sohnes hörte?
»Geh jetzt, Ma. Lass uns einfach in Ruhe.«
»Weiß sie, dass Männer, die Geschenke machen, immer etwas dafür erwarten? Weiß sie das, Lee?«
»Scher dich zum Teufel!« Er schüttelte die Fäuste und tanzte fast vor lauter ohnmächtiger Wut.
Marguerite lächelte. »Du bist erregt. Natürlich bist du das. Ich komme zurück, wenn du dich wieder besser in der Gewalt hast. Und ich helfe euch. Ich will nur helfen.«
Dann, plötzlich, stürmte sie auf Marina und die Kleine los. Man hätte meinen können, sie wollte die beiden anfallen. Sie bedeckte Junes Gesicht mit Küssen und marschierte dann durch den Raum davon. An der Tür drehte sie sich um und zeigte auf den Laufstall. »Sag ihr, dass sie den abschrubben soll, Lee. An abgelegten Sachen anderer Leute sitzen immer Keime. Wenn das Baby krank wird, könnt ihr euch keinen Arzt leisten.«
»Ma! Geh! «
»Ich bin schon dabei.« Ganz ruhig und gelassen. Sie wackelte in einer mädchenhaften Ata-ata-Geste mit den Fingern und verschwand.
Marina näherte sich Lee und trug dabei die Kleine wie einen Schutzschild vor sich. Die beiden sprachen miteinander. Dann schrien sie sich an. Von Familiensolidarität konnte keine Rede mehr sein; dafür hatte Marguerite gesorgt. Lee nahm das Baby und wiegte es auf einem Arm, dann boxte er seiner Frau
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