Der Anschlag - King, S: Anschlag
die Zimmerdecke erzittern ließ. Nach dem Auszug der Familie über mir nahm die West Neely Street 214 die unheimliche Atmosphäre eines Gespensterhauses an. Ich hatte Sehnsucht nach Sadie und fing an, mir fast zwanghaft Sorgen um sie zu machen. Bei näherer Überlegung könnte man das »fast« streichen. Ellie Dockerty und Deke Simmons nahmen meine Sorgen wegen ihres Exmannes nicht ernst. Auch Sadie nahm sie nicht ernst; vielleicht dachte sie, ich würde nur versuchen, sie mit John Clayton zu ängstigen, damit sie mich nicht ganz aus ihrem Leben drängte. Keiner von ihnen wusste, dass ihr Name sich nur um eine Silbe von dem von Doris Dunning unterschied, wenn man den Vornamen Sadie mal wegließ. Keiner von ihnen wusste von dem harmonisierenden Effekt, den ich selbst hervorzurufen schien – durch meine bloße Anwesenheit im Land des Einst. Wer würde unter diesen Umständen schuld sein, wenn Sadie etwas zustieß?
Die Albträume kamen wieder. Die Jimla-Träume.
Ich hörte auf, George de Mohrenschildt zu überwachen, und begann lange Spaziergänge zu machen, die nachmittags begannen und nicht vor neun oder sogar zehn abends in der Neely Street endeten. Unterwegs dachte ich an Lee, der jetzt in Dallas bei Jaggars-Chiles-Stovall, einer Grafikfirma, eine Ausbildung als Fototechniker machte. Oder an Marina, die vor übergehend bei einer frisch geschiedenen Frau namens Elena Hall eingezogen war. Ms. Hall arbeitete bei George Bouhes Zahnarzt, und es war dieser Zahnarzt gewesen, der am Steuer des Pick-ups gesessen hatte, als Marina und June aus der Bruchbude in der Mercedes Street ausgezogen waren.
Vor allem dachte ich an Sadie. Und an Sadie. Und an Sadie.
Weil ich auf einem dieser Spaziergänge durstig war und mich deprimiert fühlte, ging ich den Ivy Room, eine Kneipe in der Nachbarschaft, und bestellte ein Bier. Die Jukebox war abgestellt, und die Gäste waren ungewöhnlich schweigsam. Als die Bedienung mir das Bier hinstellte und sich sofort wieder dem Fernseher über der Bar zuwandte, wurde mir klar, dass alle den Mann beobachteten, den zu retten ich gekommen war. Er war blass und ernst und hatte dunkle Schatten unter den Augen.
»Um diesem offensiven Aufbau Einhalt zu gebieten, wird eine strikte Blockade für alle militärische Ausrüstung, die nach Kuba verschifft wird, eingeführt. Sämtliche Schiffe irgendwelcher Art, die für Kuba bestimmt sind – ganz gleich, aus welchem Land oder Hafen sie kommen –, werden zurückgeschickt, wenn sie Angriffswaffen geladen haben.«
»Jesus Christus!«, sagte ein Mann, der einen Cowboyhut trug. »Was glaubt er, wie die Russkis darauf reagieren werden?«
»Schnauze, Bill«, sagte der Barkeeper. »Wir müssen das hören.«
»Es wird die Politik dieser Nation sein«, fuhr Kennedy fort, »jeden Abschuss einer Atomrakete von Kuba auf irgendeine Nation in der westlichen Hemisphäre als einen Angriff der Sowjetunion auf die Vereinigten Staaten zu betrachten, der einen vollen Vergeltungsschlag auf die Sowjetunion zur Folge haben müsste.«
Eine Frau am Ende des Tresens stöhnte laut und hielt sich den Bauch. Der Mann neben ihr legte einen Arm um sie, worauf sie den Kopf an seine Schulter lehnte.
Was ich auf Kennedys Gesicht sah, war Angst und Entschlossenheit zu gleichen Teilen. Was ich dort auch sah, war Leben – totales Engagement für die zu bewältigende Aufgabe. Er war noch genau dreizehn Monate von seiner Begegnung mit der Kugel des Attentäters entfernt.
»Als notwendige militärische Vorsichtsmaßnahme habe ich unse ren Stützpunkt Guantánamo verstärkt und heute die Angehörigen unseres dortigen Militärpersonals evakuiert.«
»Eine Lokalrunde auf mich!«, verkündete Bill der Cowboy plötz lich. »Denn jetzt ist wohl für uns alle Feierabend, Amigos. « Er legte zwei Zwanziger neben sein Schnapsglas, aber der Barkeeper machte keine Anstalten, danach zu greifen. Er beobachtete Kennedy, der jetzt an Generalsekretär Chruschtschow appellierte, diese heimliche, rücksichtslose und provokative Bedrohung des Weltfriedens zu beseitigen.
Die Bedienung, die mir mein Bier hingestellt hatte, eine vom Leben gezeichnete wasserstoffblonde Fünfzigerin, brach plötzlich in Tränen aus. Das gab für mich den Ausschlag. Ich stand vom Hocker auf, schlängelte mich zwischen den Tischen hindurch, an denen Frauen und Männer saßen und den Fernseher wie ernste Kinder anstarrten, und schlüpfte in eine der Telefonzellen neben dem Skee-Ball-Automaten.
Die Telefonistin forderte mich
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