Der Anschlag - King, S: Anschlag
ich daran herumpfusche, will ich dich nicht in meiner Nähe haben.«
»Wann ist es so weit?«, fragte sie. »Dein … ich weiß nicht … dein Rendezvous mit dem Schicksal?«
»Das steht noch nicht fest.« Obwohl ich das Gefühl hatte, schon zu viel gesagt zu haben, ging ich noch etwas weiter. »Am Mittwochabend wird etwas passieren. Etwas, was ich beobachten muss. Danach entscheide ich, wie es weitergeht.«
»Kann ich dir wirklich nicht helfen?«
»Ich glaube nicht, Schatz.«
»Sollte es doch eine Möglichkeit geben …«
»Danke«, sagte ich. »Das weiß ich zu schätzen. Und du willst mich wirklich heiraten?«
»Nachdem ich jetzt weiß, dass du Jake heißt? Natürlich.«
11
Am Montagmorgen gegen zehn Uhr hielt der Chevrolet am Randstein, und Marina fuhr mit Ruth Paine nach Irving hinaus. Ich hatte selbst etwas zu erledigen und wollte eben die Wohnung verlassen, als ich schwere Schritte die Außentreppe herunterpoltern hörte. Es war Lee, der blass und grimmig aussah. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht von einem schlimmen Ausbruch postpubertärer Akne getüpfelt. Er trug Jeans und dazu einen absurden Trenchcoat, der um seine Schienbeine flatterte. Er hielt einen Arm an den Körper gedrückt, als täten ihm die Rippen weh.
Oder als hätte er etwas unter dem Mantel. Vor dem Attentat hat Lee irgendwo in der Umgebung von Love Field sein neues Gewehr eingeschossen, hatte Al geschrieben. Mir war egal, wo genau er es einschießen ging. Viel mehr beschäftigte mich die Tatsache, dass ich ihm um ein Haar begegnet wäre. Erst dachte ich relativ unbekümmert, ich hätte einfach übersehen, dass er das Haus verlassen hatte, um zur Arbeit zu fahren, und …
Wieso war er an einem Montagmorgen eigentlich nicht in der Arbeit?
Ich verwarf diese Frage und verließ das Haus mit meiner Lehreraktentasche. Sie enthielt meinen Roman, den ich nie beenden würde, Als Notizen und die bis zur Gegenwart fortgeführte Schilderung meiner Abenteuer im Land des Einst.
Wenn Lee am Abend des 10. April nicht allein war, konnte ich von einem Mitverschwörer – vielleicht sogar von de Mohrenschildt selbst – entdeckt und ermordet werden. Das hielt ich zwar nach wie vor für unwahrscheinlich, aber die Chancen dafür, dass ich nach der Ermordung Oswalds flüchten musste, waren hoch. Ebenso wahrscheinlich war, dass ich verhaftet und wegen Mordes angeklagt wurde. Falls etwas Derartiges passierte, sollten Als Notizen und meine eigenen Aufzeichnungen niemand – beispielsweise der Polizei – in die Hände fallen.
An diesem 8. April hatte ich etwas Wichtiges zu erledigen: Ich musste meinen Papierkram aus der Wohnung schaffen und möglichst weit entfernt von dem verwirrten und aggressiven jungen Mann über mir deponieren. Ich fuhr zur First Corn Bank of Dallas und war nicht überrascht, als der Bankangestellte, der mir behilflich war, dem Hometown-Trust-Banker, der mir in Lisbon Falls geholfen hatte, täuschend ähnlich sah. Dieser Kerl hieß zwar Link statt Dusen, aber er sah dem alten kubanischen Orchesterleiter Xavier Cugat trotzdem fast unheimlich ähnlich.
Ich erkundigte mich nach Schließfächern. Wenig später lagen die Manuskripte im Schließfach 775. Ich fuhr in die Neely Street zurück, wo ich einen Augenblick echter Panik erlebte, weil ich auf einmal den gottverdammten Schließfachschlüssel nicht mehr finden konnte.
Reg dich ab, ermahnte ich mich. Er steckt irgendwo in einer Tasche, und selbst wenn er verloren ist, gibt dein neuer Kumpel Richard Link dir gern einen Zweitschlüssel. Kostet dich vielleicht ’nen Dollar.
Als hätte dieser Gedanke ihn zutage gefördert, fand ich den Schlüssel in einer Hosentasche unter losem Kleingeld. Ich fädelte ihn in meinen Schlüsselring ein, wo er sicher war. Sollte ich wirklich zum Kaninchenbau flüchten und nach einem kurzen Abstecher in die Gegenwart wieder in die Vergangenheit zurückmüssen, würde ich ihn immer noch haben … obwohl alles, was sich in den letzten viereinhalb Jahren ereignet hatte, durch den Neustart gelöscht werden würde. Die jetzt in dem Bankschließfach liegenden Manuskripte würden in der Zeit verloren gehen. Was vermutlich eine gute Nachricht war.
Die schlechte Nachricht war, dass mir auch Sadie abhandenkäme.
Kapitel 22
KAPITEL 22
1
Der Nachmittag des 10. April 1963 war klar und warm, ein Vorgeschmack auf den Sommer. Ich zog Slacks und ein Sportsakko an, das ich in meinem Jahr als Lehrer an der Denholm Consolidated gekauft hatte. Der .38er Police
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