Der Anschlag - King, S: Anschlag
Arme nach ihr ausstreckte. »Goodbye, Mister Sir. Viele Dank. Sie nicht etwas sagen?«
»Okay«, sagte ich. »Ich halte dicht!« Das verstand sie zwar nicht, aber sie wirkte erleichtert, als ich einen Finger auf die Lippen legte.
Ich schloss in Schweiß gebadet die Tür. Irgendwo konnte ich nicht nur den Flügelschlag eines Schmetterlings, sondern den eines ganzen Schwarms spüren.
Vielleicht hat es nichts zu bedeuten.
Ich beobachtete, wie Marina den Sportwagen mit June in Rich tung Bushaltestelle schob, vielleicht um dort auf ihren Äh-Mann zu warten … der irgendetwas im Schilde führte. So viel wusste sie. Das hatte auf ihrem Gesicht gestanden.
Sobald sie außer Sicht war, griff ich nach dem Türknopf, und in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Ich hätte den Hörer fast nicht abgenommen, aber nur sehr wenige Leute wussten meine Nummer, und zu denen gehörte eine Frau, die mir sehr viel bedeutete.
»Hallo?«
»Hallo, Mr. Amberson«, sagte ein Mann mit leichtem Südstaatenakzent. Ich weiß nicht, ob ich sofort wusste, wer es war. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber ich glaube schon. »Hier ist jemand, der Ihnen etwas zu sagen hat.«
Ende 1962 und Anfang 1963 führte ich zwei Leben, eines in Dallas und eines in Jodie. Sie kamen am Nachmittag des 10. April um 15.39 Uhr zusammen. In meinem Ohr begann Sadie zu kreischen.
3
Sie wohnte im Westen von Jodie in der Bee Tree Lane in einem ebenerdigen Fertighaus im Ranchstil, das zu einer vier oder fünf Zeilen großen Wohnsiedlung aus identischen Häusern gehörte. In einem Geschichtsbuch aus dem Jahr 2011 hätte unter einer Luftaufnahme des Wohngebiets ERSTKÄUFERHÄUSER AUS DER JAHRHUNDERTMITTE stehen können. Nach einer Besprechung mit ihren Bibliothekshelfern, die nach dem Unterricht stattgefunden hatte, kam sie an diesem Nachmittag gegen drei Uhr nach Hause. Ich bezweifle, dass ihr der weiß-rote Plymouth Fury auffiel, der in einiger Entfernung am Randstein stand.
Schräg gegenüber, zwei oder drei Häuser weiter, wusch Mrs. Holloway ihren Wagen (eine Renault Dauphine, die die anderen Nachbarn mit gewissem Misstrauen betrachteten). Sadie winkte ihr zu, als sie aus ihrem VW Käfer stieg. Mrs. Holloway winkte zurück. Als einzige Besitzerinnen ausländischer (und irgendwie fremdartiger ) Autos in diesem Viertel fühlten sie sich sonderbar verbunden.
Sadie folgte dem Weg zu ihrer Haustür und blieb einen Augenblick stirnrunzelnd davor stehen. Sie stand weit offen. Hatte sie sie so zurückgelassen? Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Das Schloss schnappte nicht ein, weil es aufgebrochen worden war, aber das merkte sie nicht. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt jetzt der Wand über dem Sofa. Dort standen mit ihrem Lippenstift geschrieben zwei Wörter in fast ein Meter hohen Lettern: DRECKIGE FOTZE.
Sie hätte jetzt wegrennen sollen, aber ihre Wut und Verzweiflung waren so groß, dass sie keinen Raum für Angst ließen. Sie wusste, wer das gewesen war, aber Johnny war sicher längst fort. Der Mann, den sie geheiratet hatte, schreckte vor körperlichen Auseinandersetzungen zurück. Oh, es hatte viele Beschimpfungen und manchmal auch einen Schlag ins Gesicht gegeben, aber darüber hinaus nichts.
Außerdem war ihre Unterwäsche über den ganzen Fußboden verstreut.
Sie bildete eine lückenhafte Fährte vom Wohnzimmer über den kurzen Flur bis in ihr Schlafzimmer. Alle Wäschestücke – Unterröcke, Halbröcke, Büstenhalter, Schlüpfer und der Hüfthalter, den sie eigentlich nicht brauchte, aber manchmal trug – waren zerschnitten oder aufgeschlitzt. Die Badezimmertür am Ende des Flurs stand offen. Der Handtuchhalter war heruntergerissen. Wo er montiert gewesen war, stand auf den Kacheln – wieder mit ihrem Lippenstift geschrieben – eine weitere Botschaft: DRECKIGER FICKER.
Auch ihre Schlafzimmertür stand offen. Sie näherte sich ihr und blieb auf der Schwelle stehen, ohne zu ahnen, dass hinter der Tür Johnny Clayton lauerte – mit einem Messer in der einen und einem Smith & Wesson Victory Kaliber .38 in der anderen Hand. Mit einem Revolver derselben Marke und desselben Modells, den er an diesem Tag trug, würde Lee Oswald in Dallas den Polizeibeamten J. D. Tippit erschießen.
Ihr kleines Schminktäschchen lag offen auf dem Bett, und sein Inhalt, hauptsächlich Make-up, war auf der Tagesdecke verstreut. Die Falttüren ihres Kleiderschranks standen offen. Einige ihrer Kleider hingen noch traurig schlaff auf den Bügeln, aber die
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