Der Anschlag - King, S: Anschlag
Zehntausende von jungen Amerikanern, die jetzt in der Highschool waren und später aufgefordert werden würden – wenn nichts den Lauf der Geschichte änderte –, sich eine Uniform anzuziehen, nach Südostasien zu fliegen und dort einen verlustreichen Krieg zu führen, der nicht zu gewinnen war.
Sadie schloss die Augen. Ich verließ das Zimmer.
3
Als ich aus dem Aufzug trat, sah ich in der Eingangshalle keine DCHS -Schüler, aber zwei Ehemalige: Mike Coslaw und Bobbi Jill Allnut saßen auf den harten Plastikstühlen, die Zeitschriften auf ihren Knien hatten sie nicht aufgeschlagen. Mike sprang auf und schüttelte mir die Hand. Bobbi Jill begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung.
»Wie schlimm ist es?«, fragte sie. »Ich meine …« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über ihre verblassende Narbe. »Lässt es sich operieren?«
»Das weiß ich nicht.«
»Haben Sie schon mit Dr. Ellerton gesprochen?«, fragte Mike. Ellerton, für viele der beste Chirurg für kosmetische Operationen in Mitteltexas, war der Arzt, der an Bobbi Jill Wunder gewirkt hatte.
»Er ist heute Nachmittag hier, auf Visite. Deke, Miz Ellie und ich haben …« Ich sah auf meine Uhr. »… in zwanzig Minuten einen Termin bei ihm. Möchtet ihr beiden mit dazukommen?«
»Bitte«, sagte Bobbi Jill. »Ich weiß einfach, dass er sie wieder hinkriegt. Er ist ein Genie.«
»Okay, dann kommt mit. Mal sehen, wozu das Genie imstande ist.«
Mike musste meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn er drückte meinen Arm und sagte: »Vielleicht ist es weniger schlimm, als Sie denken, Mr. A.«
4
Es war schlimmer.
Ellerton reichte Fotos herum – kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder, die mich an Weegee und Diane Arbus erinnerten. Bobbi Jill holte erschrocken tief Luft und wandte sich ab. Deke ächzte leise, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst. Miz Ellie sah sie mit stoischer Miene durch, aber ihr Gesicht war bis auf zwei grelle Rougeflecken auf ihren Backenknochen kreidebleich.
Auf den beiden ersten Fotos hing Sadies Wange in ausgefransten Lappen herab. Das hatte ich am Mittwochabend gesehen; darauf war ich vorbereitet. Nicht gefasst war ich jedoch auf den wie bei einem Schlaganfallopfer herabhängenden linken Mundwinkel und das stark hängende untere Augenlid. Beides zusammen erzeugte einen clownesken Ausdruck, der mich so hilflos wütend machte, dass ich am liebsten mit der Stirn auf den Tisch des kleinen Konferenzraums geschlagen hätte. Oder – das wäre besser gewesen – noch lieber wäre ich in den Leichenkeller hinuntergestürmt, in dem Johnny Clayton lag, und hätte weiter auf ihn eingeprügelt.
»Wenn die Eltern dieser jungen Frau heute Abend kommen«, sagte Ellerton, »werde ich taktvoll sein und mich zuversichtlich geben, weil Eltern Takt und Zuversicht verdienen.« Er runzelte die Stirn. »Man hätte sie allerdings früher erwartet, wenn man bedenkt, wie ernst Mrs. Clay…«
»Miss Dunhill «, sagte Ellie ruhig, aber sehr nachdrücklich. »Sie hat sich von diesem Ungeheuer scheiden lassen.«
»Ja, gewiss, entschuldigen Sie. Jedenfalls sind Sie ihre Freunde, und ich glaube, dass Sie weniger Taktgefühl als vielmehr die Wahrheit verdient haben.« Er betrachtete eines der Fotos leidenschaftslos und tippte mit einem kurz geschnittenen Fingernagel auf Sadies zerschnittene Wange. »Das lässt sich verbessern, aber nie ganz ungeschehen machen. Nicht mit der heutigen Operationstechnik. In ungefähr einem Jahr, wenn die Verletzung ganz ausgeheilt ist, müsste ich die größte Asymmetrie beseitigen können.«
Bobbi Jill liefen jetzt Tränen über die Wangen. Sie tastete nach Mikes Hand.
»Dass sie dauerhaft entstellt bleiben wird, ist schlimm genug, aber es gibt noch weitere Probleme«, sagte Ellerton. »Der Gesichtsnerv ist durchtrennt worden. Sie wird Schwierigkeiten haben, links zu kauen. Das hängende Unterlid, das Sie auf den Fotos sehen, wird sie ihr Leben lang behalten, und auch der Tränenkanal ist teilweise durchtrennt. Trotzdem dürfte ihr Sehvermögen unbeeinträchtigt bleiben. Das hoffen wir jedenfalls.«
Er breitete seufzend die Hände aus.
»Mit der Aussicht auf wundervolle Neuerungen wie Mikrochirurgie und Nervenregeneration werden wir in zwanzig oder dreißig Jahren in solchen Fällen mehr erreichen können. Im Augenblick kann ich nur sagen, dass ich mein Bestes tun werde, um alle reparablen Schäden zu beheben.«
Mike sagte zum ersten Mal etwas. Er klang verbittert. »Zu dumm, dass wir
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