Der Anschlag - King, S: Anschlag
nicht«, sagte Lee. »Wir sind Atheisten.«
Er mochte einer sein, aber in Als Aufzeichnungen stand, dass Marina mithilfe ihres Verehrers George Bouhe June hatte heimlich taufen lassen, ungefähr zur Zeit der Raketenkrise.
»Das sind wir auch«, sagte de Mohrenschildt. »Daher feiern wir den Osterhasen!« Er war näher an die Lampe herangetreten, und sein dröhnendes Lachen ließ mich halb ertauben.
Sie unterhielten sich noch zehn Minuten lang in einer Mischung aus englisch und russisch. Dann sagte Jeanne: »Wir lassen euch jetzt in Ruhe. Ich fürchte, wir haben euch aus dem Bett geholt.«
»Nein, nein, wir waren noch auf«, sagte Lee. »Danke fürs Vorbeikommen.«
George sagte: »Wir reden bald mal miteinander, Lee, ja? Du kannst in den Country Club kommen. Wir organisieren die Kellner zu einem Kollektiv!«
»Klar, klar.« Sie bewegten sich jetzt in Richtung Wohnungstür.
De Mohrenschildt sagte noch etwas, aber er sprach so leise, dass ich nur ein paar Wörter mitbekam. Ann … as … zurück, das war alles, was ich mitbekam.
Wann hast du’s zurückgeholt? Hatte er das gefragt? Wie in Wann hast du dir das Gewehr zurückgeholt?
Ich spielte die Aufzeichnung noch ein halbes Dutzend Mal ab, aber die superlangsame Aufnahme war einfach nicht deutlich genug. Ich lag noch lange wach, als die Oswalds längst schliefen; ich war immer noch wach, als June um zwei Uhr morgens kurz quengelte und dann, von ihrer Mutter beruhigt, weiterschlief. Ich dachte an Sadie, die im Parkland Memorial in unruhigem Morphiumschlaf lag. Ihr Zimmer war hässlich, und ihr Bett war schmal, aber ich hätte dort schlafen können, davon war ich überzeugt.
Ich dachte über de Mohrenschildt nach, diesen verrückten Schauspieler, der sich dramatisch das Hemd aufgerissen hatte. Was hast du zu ihm gesagt, George? Was hast du zuletzt gesagt? Wann hast du’s zurückgeholt? Oder: Mann, wir lassen uns dadurch nicht zurückwerfen? Oder: Los, Mann, lass uns auf den alten Plan zurückgreifen? Oder etwas völlig anderes?
Schließlich schlief ich doch ein. Ich träumte davon, mit Sadie über einen Rummelplatz zu gehen. Wir kamen zu einer Schießbude, an der Lee mit seinem in die Schulter eingezogenen Gewehr stand. Der Kerl hinter der Theke war George de Mohrenschildt. Lee schoss dreimal, aber immer daneben.
»Sorry, mein Sohn«, sagte de Mohrenschildt. »Für Kerle, die nur Fahrkarten schießen, gibt’s keine Preise.«
Dann wandte er sich mir zu und grinste.
»Tritt vor, mein Sohn, vielleicht hast du ja mehr Glück. Irgendjemand wird den Präsidenten erschießen, warum nicht du?«
Schon im ersten grauen Tagesschimmer schreckte ich hoch. Über mir schliefen die Oswalds weiter.
7
Am Ostersonntag saß ich nachmittags wieder auf der Dealey Plaza auf einer Parkbank, betrachtete den dräuenden Klinkerwürfel des Schulbuchlagers und fragte mich, was ich als Nächstes tun solle.
In zehn Tagen würde Lee aus Dallas in seine Geburtsstadt New Orleans umziehen. Er würde Arbeit als Wartungstechniker bei einem Kaffeeröster bekommen und die Wohnung in der Magazine Street mieten. Marina und June würden noch etwa zwei Wochen bei Ruth Paine und ihren Kindern in Irving zu Gast sein, bevor sie Lee folgten. Ich würde ihm nicht folgen. Nicht jetzt, wo Sadie eine lange Genesungszeit und eine ungewisse Zukunft vor sich hatte.
Würde ich Lee zwischen diesem Ostersonntag und dem Vierundzwanzigsten erschießen? Möglichkeiten würden sich genug bieten. Seit er seinen Job bei Jaggars-Chiles-Stovall verloren hatte, hielt er sich meist in seiner Wohnung auf, wenn er nicht gerade in der Innenstadt Gerechtigkeit-für-Kuba-Flugblätter verteilte. Gelegentlich ging er in die Stadtbibliothek, schien aber Ayn Rand und Karl Marx zugunsten von Zane-Gray-Western aufgegeben zu haben.
Oswald auf offener Straße oder in der Bibliothek in der Young Street zu erschießen wäre ein gutes Rezept zur sofortigen Verhaftung, aber was war, wenn ich ihn oben in seiner Wohnung ermordete, während Marina in Irving war und Ruth Paine Russischstunden gab? Ich konnte bei ihm anklopfen und ihn mit einem Kopfschuss erledigen, wenn er die Tür öffnete. Kinderspiel. Auf Kernschussweite konnte man keine Fahrkarte schießen. Das Problem waren die Folgen. Ich müsste fliehen. Wenn ich das nicht tat, würde die Polizei sich als Erstes für mich interessieren. Schließlich war ich der Nachbar von unten.
Ich konnte behaupten, zur Tatzeit nicht zu Hause gewesen zu sein, und die Polizei würde das
Weitere Kostenlose Bücher