Der Anschlag - King, S: Anschlag
– ungefähr fünfundzwanzig Meilen südlich von Derry. Sie haben ihn adoptiert und auf ihrer Farm arbeiten lassen, als klar wurde, dass er in der Schule nicht mitkam.«
»Klingt wie Oliver Twist oder so ähnlich.«
»Nein, sie waren gut zu ihm. Du musst bedenken, dass es damals keine Förderklassen gab und der Ausdruck ›geistig behindert‹ noch nicht erfunden war …«
»Ich weiß«, sagte Al trocken. »Damals bedeutete geistig behindert, dass man dumm, schwachsinnig oder regelrecht irre war.«
»Aber das war er nie, ist er auch heute nicht«, sagte ich. »Nicht richtig. Falls er je neuronale Schäden hatte, haben sie sich ausgewachsen. Ich glaube, dass daran hauptsächlich der Schock schuld war. Das Trauma. Er hat jahrelang gebraucht, um sich von diesem Abend zu erholen, und als er das Trauma verarbeitet hatte, lag die Schulzeit schon hinter ihm.«
»Zumindest bis er wieder die Schulbank gedrückt hat, um seinen Erwachsenenabschluss zu machen – und da war er im mittleren Alter, eher sogar darüber hinaus.« Al schüttelte den Kopf. »Was für eine Vergeudung!«
»Unsinn«, sagte ich. »Ein gutes Leben ist nie vergeudet. Hätte es besser sein können? Vermutlich. Kann ich dafür sorgen? Meine gestrigen Erfahrungen scheinen das nahezulegen. Aber das ist nicht der springende Punkt.«
»Worum geht’s sonst? Ich erkenne zum Fall Carolyn Poulin nur Parallelen, und dieser Fall ist längst bewiesen. Ja, die Vergangenheit lässt sich ändern. Und nein, die Welt platzt nicht wie ein Ballon, sobald man das tut. Gießt du mir noch einen Kaffee ein, Jake? Und nimm dir selbst auch einen, wenn du schon dabei bist. Er ist heiß, und du siehst aus, als könntest du dringend einen brauchen.«
Während ich den Kaffee eingoss, fiel mein Blick auf eine Packung Rosinenbrötchen. Als ich Al eines anbot, schüttelte er den Kopf. »Feste Nahrung tut beim Schlucken weh. Aber wenn ich unbedingt Kalorien zu mir nehmen muss, steht im Kühlschrank ein Sechserpack Ensure. Wenn du mich fragst, schmeckt das Zeug wie gekühlter Rotz, aber ich würge es irgendwie runter.«
Als ich ihm die Trinknahrung in einem Kelchglas aus dem Küchenschrank servierte, lachte er laut.
»Glaubst du, dass es so besser schmeckt?«
»Vielleicht. Wenn du dir vorstellst, es wäre Pinot noir.«
Er leerte das halbe Glas in einem Zug, und ich sah ihm an, dass er zu kämpfen hatte, um den Brechreiz zu überwinden. Diesen Kampf gewann er, aber dann schob er das Glas weg und griff wieder nach seinem Kaffeebecher. Er trank jedoch nicht daraus, sondern umschloss ihn nur mit beiden Händen, wie um sich daran zu wärmen. Als ich das sah, berechnete ich die Zeit neu, die ihm vermutlich noch blieb.
»Also«, sagte er. »Worin liegt der Unterschied?«
Wäre er nicht so krank gewesen, hätte er ihn selbst erkannt. Er war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. »Vor allem darin, dass Carolyn Poulin nie ein guter Testfall war. Du hast ihr nicht das Leben gerettet, Al, nur ihre Beine. Sie hat auf beiden Gleisen – nach dem Unfall, an dem Cullum schuld war, beziehungsweise nach deinem Eingreifen – ein gutes, aber völlig normales Leben geführt. Sie hat auf beiden Gleisen nicht geheiratet. Ist auf beiden kinderlos geblieben. Das ist, als hättest du …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Nichts für ungut, Al, aber du warst wie ein Arzt, der einen entzündeten Blinddarm rettet. Toll für den Blinddarm, aber er wird nie eine lebenswichtige Funktion haben, auch wenn er gesund bleibt. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja.« Aber er schien leicht sauer zu sein. »Mehr als Carolyn Poulin hab ich mir nicht zugetraut, Kumpel. In meinem Alter hat man nur begrenzt Zeit, auch wenn man gesund ist. Ich hatte etwas Wichtigeres im Visier.«
»Das sollte keine Kritik sein, Al. Aber die Familie Dunning wäre ein besserer Testfall, denn hier geht es nicht nur um ein querschnittsgelähmtes Mädchen, so schrecklich das für die Kleine und ihre Angehörigen gewesen sein muss. Wir reden von vier Ermordeten und einem lebenslänglich Verkrüppelten. Außerdem kennen wir ihn. Als er sein Zeugnis hatte, habe ich ihn auf einen Burger mit zu dir mitgenommen, und beim Anblick von Barett und Talar hast du uns eingeladen. Weißt du noch?«
»O ja. Dabei hab ich ihn für meine Wand fotografiert.«
»Glaubst du, dass dieses Bild noch dort ist, wenn ich das schaffe – wenn ich seinen Alten daran hindern kann, den Hammer zu schwingen?«
»Weiß nicht«, sagte Al. »Vermutlich nicht.
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