Der Apotheker: Roman (German Edition)
Bücher überließ er seiner Tochter, die immer mit der Nase in einem steckte. Sie borgte sich sogar die Wörter daraus, statt eigene zu benutzen. Zwar verstand ich nur selten deren Sinn, aber es war unschwer zu erraten, wenn Annette mit den Worten anderer redete, denn dann wurde ihre Stimme tiefer, und sie spreizte die Finger.
»Los, komm, noch in der Blüte unserer Jahre. Das Alter naht, eh wir es uns versehen«,
schalt sie ihren Vater, wenn er trödelte.
Oder:
»Des glorreichen Himmels Licht, die Sonn’, je höher sie wird stehn, so schneller wird ihr Lauf beendet sein und schneller wird sie untergehn.«
»Ich bitte dich, hab Erbarmen mit dem geschätzten Mr Herrick«, seufzte dann der Vater. Schmunzelnd bogen sich seine Mundwinkel nach oben, und er zwinkerte mir zu, dass ich errötete. »Der Mann würde sich im Grabe umdrehen, wenn er hören würde, wozu du seine Verse missbrauchst.«
Doch genau dies tat der Buchhändler selbst. Auch er stahl sich Wörter aus den Büchern, nur machte er es raffinierter. Denn weder sprach er geschwollen daher, noch legte er zwischen den Worten ehrfürchtige Pausen ein. Vielmehr klang es bei ihm wie eine Bemerkung über das Wetter, leichthin und ohne nach einer Zuhörerschaft zu schielen. Vielleicht lag es daran, dass ich den Buchhändler nie über ein Buch gebeugt sitzen sah wie so oft seine Tochter. Jedenfalls stellte ich mir vor, dass die Worte klammheimlich in ihn eindrangen, so wie der Staub in der Luft in seine Lungen gesogen wurde – anders als bei Annette, die sich beim Lesen stets Notizen machte. Wie sonst hätte er so viele Worte in sich aufnehmen können?
Ich traute meinen Ohren kaum, als er mich nach ein paar Wochen fragte, ob er mich um Hilfe bitten dürfe.
»Verzeihen Sie mir meine Dreistigkeit, aber ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie lesen können, nicht? Vielleicht liege ich falsch, aber die Art und Weise, wie Sie die Bücher betrachten, lässt mich vermuten, dass Sie etwas von ihren Geheimnissen begreifen.«
Ich errötete. »Ich kann nicht besonders gut lesen, Sir. Das heißt, ich kenne zwar die Buchstaben, aber diese Bücher …«
Mr Honfleur lachte. »Ich halte Sie keineswegs für einen Bücherwurm, meine Liebe. Dafür sind Sie viel zu jung und hübsch.«
Hinter mir stieß Annette scharf die Luft aus. Ich wurde puterrot, befürchtete ich doch, dass er mich bitten würde, etwas vorzulesen, und ich kein Wort herausbrächte. Er würde seine Liebenswürdigkeit mir gegenüber beibehalten, das schon, aber er würde nie mehr auf dieselbe Weise mit mir reden. Gewissermaßen von Gleich zu Gleich.
Mr Honfleur lachte wieder. »Machen Sie kein so erschrockenes Gesicht. Ich habe eine neue Geschäftsidee – Bücher mit Geschichten eigens für Kinder. Solche Bücher sind zurzeit sehr gefragt, scheint mir, und zum Glück sind Sie frei von diesem Gelehrtendünkel, solche Fibeln in Bausch und Bogen als der Gesundheit abträglich zu verwerfen.« Er rollte die Augen in Richtung Annette, dann zwinkerte er mir zu. »Ich würde gern wissen, was Sie von ihnen halten.«
Meine Angst war völlig unbegründet gewesen. Ich kannte zwar nur die ABC -Fibel – ein flaches Brett mit einer Klemme, die ein Blatt Papier mit dem Alphabet und dem Vaterunser festhielt. Doch obwohl die goldgeprägten Bücher, die mir der Hugenotte brachte, einer solchen Fibel nicht viel mehr ähnelten, als ein arabischer Hengst einem Keiler ähnelt, so waren sie doch recht einfach zu lesen, mit einer leicht entzifferbaren Schrift. Ich tat so, als würde ich mich nur Mr Honfleur zuliebe mit ihnen beschäftigen, doch in Wirklichkeit machte es mir großes Vergnügen, die Wörter von der Seite zu pflücken und in meinem Kopf zusammenzusetzen, eines nach dem anderen, bis die Geschichte Gestalt annahm. In einer Ecke des Ladens, unter einem hohen Regal, stand ein Stuhl, auf den ich mich setzen und lesen konnte, ohne jemandem im Wege zu sein, und ich pflegte es so einzurichten, dass ich mich dort stets noch ein paar Minuten ausruhen konnte, bevor ich mich wieder auf den Heimweg in die Swan Street machte. Niemand beachtete mich. Wenn ich ganz ruhig saß, legte sich der Staub in der Luft, und dann bekam ich eine merkwürdige Ahnung davon, wie es hier sein musste, wenn ich nicht da war.
Eines Abends, als ich soeben mein Buch aus der Hand gelegt hatte, kam Mr Honfleur in den Laden zurück. Er bemerkte mich nicht. Er trat hinter seine Tochter und bückte sich, um ihr die Arme um die Schultern zu
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