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Der Apotheker: Roman (German Edition)

Der Apotheker: Roman (German Edition)

Titel: Der Apotheker: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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jetzt, ich hätte dem Jungen den winzigen blutigen Körper ins Gesicht geschleudert und jubelnd gelacht über sein Entsetzen und seinen Abscheu, ich hätte mich über ihn gestellt, wenn er am Boden liegend gewürgt hätte, und ihm mit dem Stiefel in die Eingeweide getreten. Aber es war zu spät. Der Wurm hatte nicht die Absicht, seinen Griff zu lockern. Erst wenn ich tot wäre. Schon hatte er die Lebensgeister aus mir herausgesogen wie den Saft aus einer Pflaume, sodass ich zu einem Nichts zusammenschrumpfte, zu einem Stein, umhüllt von ausgetrockneter Haut. Ich wollte nur noch sterben.
    Meine Mutter hingegen loderte vor rechtschaffenem Zorn. Sie irrlichterte durch den Raum, als wäre der Boden unter ihren Füßen ein glühender Kohlenrost. Der Junge beobachtete mit wachsendem Schrecken, wie sie seinen Brief aus der Büchse auf der Anrichte nahm, sich Schal, Umhang und Holzschuhe anzog und ihm Rock und Hut in die Hand drückte. Das werde er nicht zulassen, stammelte er verzweifelt. Mit pompösem Getue putzte er sich die Nase, wobei ihm fast der Hut zu Boden fiel. Er würde keine Einmischung in seine Angelegenheiten dulden. Nein, keinesfalls. Es würde Mama Tally besser zu Gebote stehen, wenn sie sich über ihre Lage klar würde. Er verlange, dass sie seine Wünsche respektiere. Natürlich würde sein Vater niemals einwilligen, sie zu empfangen, zischte er. Sie sei eine Närrin, wenn sie glaube, er würde zulassen, dass sie auch nur einen Fuß über seine Schwelle setze.
    Meine Mutter erwiderte nichts. Stattdessen strich sie sich vor unserer Spiegelscherbe das Haar glatt, setzte sich die Haube auf und schloss die Bänder mit einer flinken Bewegung zu einer Schleife. Dann hob sie seinen Degen auf und drehte sich so jäh zu ihm um, dass der edelsteinverzierte Knauf seine Nase streifte. Seine Stimme zitterte, als er danach griff. Selbst wenn sie zu einem Gespräch vorgelassen würde, was dann? Sein Vater sei ein boshafter, verbitterter alter Mann. Sie werde doch nicht so töricht sein und erwarten, dass er ihr verständnisvoll zuhöre. Der Kaufmann werde Mutter und Tochter wegen Mannstollheit und Hoffahrt an den Pranger stellen und mit der Reitgerte auspeitschen lassen. Er würde nicht eher ruhen, bis sie in Schande aus der Gemeinde ausgestoßen würden. Sei Mama Tally etwa so gut gestellt, dass sie es sich leisten könne, im Alter das Recht auf die Unterstützung durch die Gemeinde zu verlieren? Oder glaube sie wirklich, das Dorf würde zusammenstehen, um sie vor dem Zorn des alten Mannes zu schützen? Wenn das der Fall sei, sei sie noch übergeschnappter, als er ohnehin schon den Eindruck habe. Denn zweifelsfrei wären die Dorfbewohner überglücklich, wenn sie sie endlich loswürden. Ob sie denn nicht wisse, dass viele sie eine Hexe nannten?
    Mama Tally bedachte ihn mit einem Blick, der selbst einen Stein zerschmettert hätte. Er klappte den Mund auf und wieder zu, aber es kam kein Wort heraus. Später überlegte ich, ob seine Sprachlosigkeit vielleicht die Folge eines Fluchs war, den sie über ihn verhängt hatte, aber das ist unwahrscheinlich. Meine Mutter war ein schlauer Fuchs und hätte gewusst, dass dies völlig überflüssig war. Er war auch ohne ihr Zutun schon verflucht genug, verflucht durch seine Eitelkeit und Dummheit und die einfältige Gier eines Lebens in Zügellosigkeit und Müßiggang.
    »Ich werde beizeiten zurück sein!«, rief sie mir zu, während sie ihn in die hereinbrechende Dämmerung hinausschob. »Wenn alles geregelt ist.«
    Ich sagte nichts, sondern starrte nur kläglich zu Boden. Sie schlug die Tür hinter sich zu. Ein Hauch von Orangenwasser hing in der Luft, wehmütig wie Staub in einem Sonnenstrahl. Ich sog ihn ein. Alles war still. Dann hüllte die Schwärze mich wieder ein.
    Ich griff nach einer Schüssel auf dem Küchentisch und übergab mich.
     
    In jener Nacht kehrte meine Mutter nicht zurück. Ich machte mir keine Gedanken darüber, wo sie geblieben sein mochte. Im Grunde war ich überhaupt zu keinem Gedanken fähig. Ich lag auf unserem Bett, ohne mir auch nur die Mühe zu machen, mich auszuziehen. Ich weinte nicht. Mein Herz war stumpf und bleiern, die Hunderte Worte, die mir nicht über die Lippen gekommen waren, lagen mir schwer wie Wackersteine auf der Brust, aber meine Haut juckte und zuckte, und meine Finger waren vor Unruhe ganz verkrampft. Um sie zu lockern, wrang ich die raue Decke zwischen meinen Händen, bis sie schmerzten. Der grobe Stoff war eine Wohltat.
    Als ich

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