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Der Apotheker: Roman (German Edition)

Der Apotheker: Roman (German Edition)

Titel: Der Apotheker: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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blinzelte mich in schläfriger Benommenheit an und wischte mir unbeholfen eine Träne aus dem Gesicht.
    »Arme Lize«, murmelte sie im Halbschlaf. »Immer noch traurig.«
    Der Kummer presste mir schier das Herz zusammen. »O Mary, liebe, liebe Mary.«
    Ich streichelte ihr über die Wange. Mary berührte meine Hand, dann schloss sie die Augen und rollte sich wieder zusammen.
    »Schlafen«, sagte sie gähnend und hielt die Decke hoch, damit ich mich neben sie kuschelte. Ich legte mich nieder, das Gesicht ihr zugewandt, sodass sich unsere Nasen fast berührten. Sie atmete tief und war schon fast wieder eingeschlafen.
    »Ach, Mary«, flüsterte ich. »Vergib mir. Es tut mir so leid, dass du das alles ganz allein ertragen musstest.«
    Ich drückte ihr unter der Decke sanft die Hand. Sie murmelte etwas und rollte sich zur Seite. Ich wusste, dass ich sie in Ruhe schlafen lassen sollte, aber ich konnte nicht.
    »Mary, du weißt doch, nicht wahr, dass … du weißt, dass du …?« Ich gab es auf und rüttelte sie stattdessen an den Schultern. »Mary, das, was da gerade mit dir geschieht, dieses Ding, das in dir wächst, in deinem Bauch, weißt du, was das ist?«
    Mary drehte sich von mir weg und zog abwehrend die Schultern hoch. »Schlafen«, wiederholte sie.
    »Ich kann nicht schlafen. Nicht, bevor du mir alles erzählt hast. O Mary, wer hat dir das angetan? War es Mr Jewkes, war er es? Dieses Ungeheuer, ich schwöre dir, ich könnte ihn …«
    Mary fuhr herum, mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. »Nein, nein. Pscht! Nicht sagen. Niemals. Geheimnis. Großes Geheimnis. Darf nicht sagen.«
    »Wer hat dir das verboten? Etwa dieser Mistkerl Jewkes? Oder unser Herr, dieser Mörder? Wer, Mary?«
    »Darf nicht sagen«, wiederholte sie mit zittriger Stimme und presste mir ihre abgekauten Fingernägel in die Wangen. »Hab bei Gott geschworen. Sonst Strafe. Darf nicht sagen.«
    Sie blickte mich flehentlich und voller Panik an. Ich nahm sie in die Arme und umschlang sie so fest, dass sich das Wesen in ihrem Bauch bewegte. Ich streichelte sie und unterdrückte mein Entsetzen.
    »O Mary, meine Liebste, was haben sie dir und mir nur angetan?«
    In dem Knäuel der Decken bewegte sich noch etwas. Das Äffchen drückte sich an Mary, zog an ihrem Nachthemd, hüpfte ihr schließlich auf die Schulter und wickelte sich in ihr Haar. Es beäugte mich mit seinen klugen, dunklen Augen.
     
    Ich streichelte ihr übers Haar, bis sie, die Finger um den Schwanz des Äffchens gekrallt, wieder eingeschlafen war. Ich ertrug weder diesen Anblick, noch schaffte ich es, ihre Finger von ihm zu lösen. Meiner Schätzung nach war Mary im fünften Monat, möglicherweise schon im sechsten. Welchen grausigen Eindrücken man die Schwangere auch ausgesetzt haben mochte, sie hatten ihre Wirkung auf das Kind wahrscheinlich schon getan. Und obwohl ich am liebsten das Tier aus Marys Umarmung gerissen hätte, brachte ich es nicht übers Herz, ihr diesen Trost zu nehmen. Ihre Lage war so schon schlimm genug. Dennoch, wenn ich sah, wie sich das Äffchen an ihre Wange schmiegte, wünschte ich, es wäre tot. Und das Kind in ihrem Leib auch. Ausgelöscht jede Erinnerung daran, damit wir irgendwie von Neuem beginnen könnten.
    Ich schlief nicht mehr ein, sondern starrte an die Küchendecke und dachte an die Kuppel, die mit der Dunkelheit verschmolz, als wäre am Himmel ein großes schwarzes Loch ausgestanzt. In ihrem Schatten wurden Tag für Tag Menschen krank, litten Hunger, trauerten, wurden in den Ruin getrieben und starben eines elenden Todes, ohne dass sie auch nur ein einziges Mal zu ihnen hinabschaute. Ihr Blick war stets auf den Horizont gerichtet, und sie blieb ungerührt vom Leid der unbedeutenden Menschenleben um sie herum – genau wie Gott. Mr Honfleur hatte mir einmal erzählt, dass nach Ansicht von Mr Wren, dem Architekten der Kathedrale, jedes Bauwerk auf die Ewigkeit hin ausgerichtet sein sollte.
    Ich zog der schlafenden Mary die Decke über die Schultern. Sie seufzte und saugte an ihrer Zunge. Ich hatte Kopfschmerzen von all den unbeantworteten Fragen. Aber eines wusste ich: Wir konnten nicht in der Swan Street bleiben. Wir mussten fliehen, koste es, was es wolle. Für das arme Kind mochte es bereits zu spät sein, vielleicht waren seine wachsweichen Glieder schon zu den grotesken Formen verdreht, die sich unser Herr, dieses Ungeheuer, für es ausgedacht hatte. Für Mary war es noch nicht zu spät.
    Es war noch dunkel, als ich aus dem Bett

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