Der Apotheker: Roman (German Edition)
Appetit. Ein trockener Husten quälte mich, mein Gesicht war fahl, und meine dunkel umschatteten Augen lagen tief in den Höhlen. Sogar die zähe, finstere Wut, die ich auf den ersten Kilometern der Reise noch genährt hatte, ebbte allmählich ab. Zurück blieb eine rußige Gischt, die mein Inneres besudelte und auf meiner Zunge einen bitteren Geschmack hinterließ. Ich fühlte mich leer und ausgepumpt, mein Gewand hing mir wie ein Kinderkleid von den schmalen Schultern, ich sah armselig aus. Zwar vermied ich es, an meine Mutter zu denken, aber wenn mir in den langen, öden Stunden in fröstelndem Halbschlaf der Kopf auf die Brust sank, war es das Bild der sich leise schließenden Tür unseres Häuschens, das mich hochschrecken ließ. Der Mann mir gegenüber sog unentwegt an einer langen Tonpfeife, deren Rauch mir in der Kehle kratzte und in den Augen brannte, bis sie tränten.
Die ruckartigen Bewegungen und die stickige Luft in der Kutsche schlugen mir auf meinen ohnehin empfindlichen Magen, und die Übelkeit raubte mir all meine Kraft. Wenn ich bei Tagesanbruch geweckt wurde, um erneut meinen Platz in der Kutsche einzunehmen, musste ich mich so heftig übergeben, dass ich das Gefühl hatte, mein Inneres stülpte sich nach außen. Doch trotz all der Beschwernisse wünschte ich doch, die Reise würde nie zu Ende gehen. Ich hatte in meinem ganzen Leben nur eine Person kennengelernt, die in London gewesen war, einen Bäckerlehrling, der, das Gesicht mehlbestäubt, Stein und Bein schwor, niemals wieder in diese Stadt zurückzukehren. Er war nur einen Monat dort gewesen, und in dieser Zeit, so behauptete er, sei kein Tag vergangen, an dem er nicht verspottet, getadelt, angerempelt, übers Ohr gehauen und obendrein oft auch seines Geldes beraubt wurde. Es habe kein noch so winziges Plätzchen gegeben, um in Ruhe nachzudenken, nicht einen einzigen Atemzug frischer, sauberer Luft. Das Getöse auf den Straßen sei unerträglich, der erstickende Nebel von Krankheiten verpestet, der berühmte Fluss nur ein übel riechender brauner Graben voll gärender Fäkalien; und London selbst ein teuflischer Karneval, eine unendliche Hölle, stinkend nach verdorbenem Fleisch, wimmelnd von Straßenräubern, Gaunern und Huren. Ein Ort der Verdammten, hatte er grimmig gemurmelt. Ohne Güte, ohne auch nur eine Spur Mitgefühl für den Nächsten. Man könne endlos durch die verschlungenen Straßen wandern, immer weiter, mitgerissen vom Strom der Vorbeieilenden, bis man erschöpft zu Boden sinke. Und selbst dann komme niemand auf die Idee, einem hilfreich die Hand zu reichen. Nein, man würde achtlos niedergetrampelt von tausend Fremden, die zornige Flüche ausstießen.
London. Schon der Name weckte die Vorstellung von Schwefelhauch. Eine Stadt, zwanzigmal so groß wie Newcastle? Das war unvorstellbar, entsetzlich. Während die Tage vergingen und die Kilometer unter den Rädern unserer Kutsche nur widerwillig zurückwichen, nahm das rumpelnde, erstickende, lichtlose Gefährt, in dem ich ausharren musste, stündlich deutlicher die schrecklichen Züge eines Fegefeuers an, aus dem es kein Entrinnen gab, sosehr ich mich auch zu Boden werfen und um Vergebung für meine Sünden flehen würde. Mein Schicksal war besiegelt. Schon bald würde ich in den feurigen, erbarmungslosen Schlund Londons stürzen.
Und keine rettende Hand würde da sein. Was das Mitgefühl des Apothekers und seiner Familie betraf, hegte ich keine falschen Hoffnungen. Es war offenkundig, dass sie mich verächtlich und grausam behandeln würden. Ihnen als Vermögenden würde es nicht nur Genugtuung verschaffen, einen Dienstboten zu schmähen; als Geschäftsfreunde des Kaufmanns hätten sie davon gewiss auch noch Vorteile. Ich durfte wohl kaum Güte von einem Dienstherrn erwarten, der das volle Ausmaß meiner Schande kannte und dafür bezahlt wurde, mich von meinem Ungemach zu befreien. Meine Sünden würden mir nicht vergeben werden. Der himmlische Vater selbst würde huldvoll lächelnd die Züchtigungen billigen, die sich der Apotheker einfallen ließe, und ihm beim Prügeln die Hand führen. Aber man würde mich, Gott sei Dank, von dem Wurm befreien. Man würde mir etwas geben, das ihn aus mir herausspülen würde, wie ein Klistier einen hartnäckigen Kotklumpen aus den Gedärmen herausspült, und wie ein Klumpen Scheiße würde er in einer der stinkenden Senkgruben landen, auf denen die Häuser der Stadt wuchsen. Es munterte mich etwas auf, darüber nachzudenken und mir den
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