Der Apotheker: Roman (German Edition)
einem seiner Bücher vorlesen, eine überflüssige Demütigung, die mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. Zuweilen gab er jedoch ein Zartgefühl zu erkennen, das man eher von einer Lady am Teetisch als von einem gelehrten Mann erwartet hätte. Ich hätte an diesem Plauderstündchen vielleicht sogar Gefallen gefunden oder es zumindest mehr geschätzt als die übliche Abfolge meiner Hausarbeit, wären nicht die plötzlichen und beängstigenden Stimmungsschwankungen des Apothekers gewesen, die ihn in dem einen Moment liebenswert, ja geradezu onkelhaft, und im nächsten grausam und streng wie ein Kerkermeister erscheinen ließen. Einmal schlug er sogar mit einer Reitgerte auf den Tisch, was auf der Platte eine Kerbe hinterließ und mich dermaßen erschreckte, dass ich entsetzt aufschrie. Dass ich ihn nicht ansehen durfte, machte mich schier verrückt, denn so war ich bei seinen heftigen Ausbrüchen nicht im Mindesten vorgewarnt. Und ich hatte auch nicht die leiseste Ahnung, weshalb ihn manche meiner Antworten so in Rage versetzten.
Im Laufe der Zeit wurde ich vorsichtiger mit dem, was ich sagte. Schließlich verfiel der Apotheker in Schweigen. Sein Stuhl knarrte. Ich hörte sein leises Atmen, das Rascheln von Blättern, die zusammengerafft wurden, und ein schmatzendes Geräusch. Ängstlich starrte ich die Wand an, die Hände im Schoß verschränkt, und wartete gespannt, welche Arznei er mir verschreiben würde. In meinem Bauch rumorte es vor Aufregung und Bangen. Schließlich atmete er tief aus und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Ich wünsche, dass du jeden zweiten Tag zu dieser Stunde zu mir kommst, mit Ausnahme der Sonntage. Und jetzt geh. Gewiss wartet eine Menge Arbeit auf dich.«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber, Sir. Ich hatte gedacht … das heißt, ich hatte gehofft … ich … ich verstehe nicht, Sir.«
Der Apotheker antwortete nicht gleich. Erst war ein Rascheln zu hören, dann das Klirren von Glas, schließlich das Geräusch, wenn eine Feder über Papier kratzt.
»Das glaube ich dir gern«, sagte er. »Heute möchte ich nicht zu Mittag essen. Mary soll mir Tee bringen.«
Ich drehte mich rasch um, sah, dass er mit gesenktem Kopf über seiner Arbeit saß, wandte aber schnell den Blick wieder ab, als ich mir meines verbotenen Tuns gewahr wurde. Er hatte mich zwar nicht gesehen, dennoch war ich aufgewühlt und verängstigt, von der Gleichgültigkeit meines Herrn ebenso wie von meiner eigenen Verwegenheit.
»Gibt es denn kein … ich meine, könnte ich denn nicht …?«
»Tee«, wiederholte er kühl, indem er ein Blatt beiseitelegte und ein neues zu beschreiben begann.
Damit war ich entlassen.
EC – Befragung Nr. 1
Entbindung voraussichtlich in vier bis fünf Monaten, erkennbare Anschwellung des unteren Bauchs & leichte Vergrößerung der Brüste. Geboren im Dorf W… in der Grafschaft Northumberland, Eltern englisch. Vater verstorben [Pleuritis]
Allgemeinzustand der Person robust
isst und trinkt tüchtig – Einzelheiten des täglichen Speiseplans im Anhang
Stuhl fest & gut in Farbe/Geruch; kein Anzeichen von Würmern
Urin strohgelb/reichlich, ohne Ablagerungen/Eintrübung; kein feststellbarer Beigeruch
Blut wässrig, aber klar & von guter Farbe – keine Klumpenbildung oder Schleim
Speichel klar & flüssig – keine Knötchen oder Zähflüssigkeit erkennbar
Mundgeruch stark & säuerlich/übel riechend, was auf kräftige Lunge verweist
Zähne fast vollständig – hinterer Gaumen leicht geschwollen
Augen klar, mit unnatürlich weißem Umfeld
Charakter & Physiognomie:
von kurzer Statur, im Stehen nicht mehr als eins achtundfünfzig
kräftiger Körperbau mit ausgeprägten Brüsten & breitem Rücken, verweist auf primitive Sexualität
dichtes schwarzes Haar, große, dunkle Augen & cholerische Gesichtsfarbe mit romanischem Einschlag
Schädel spitz zulaufend mit Einbuchtung über rechtem Ohr & flache Stirn, verweist auf begrenzte Intelligenz
Grundkenntnisse in Lesen & Schreiben [ungewöhnlich – Auswirkungen auf Einbildungskraft?]
aber trotz Schulbildung einfältig & von abergläubischem Wesen [»einem Besen, den man auf den Borsten stehen lässt, wird alle Kraft entzogen«]
→ nach dem ersten Eindruck neigt Person stark zu cholerischem Temperament, verstärkt durch die rohen Instinkte der Landbevölkerung: von rascher Auffassungsgabe, dreist, aufbrausend, hitzig, streitsüchtig, arglistig, einschmeichelnd, überaus
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